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Der Große Einsame und DIE WELT - III/2. Finale.


Langsam kam ich in die Jahre bei der WELT. Man hatte sich mit mir abgefunden. Frau Bütow mochte mir zwar nicht öffentlich die Hand geben, war aber insgeheim auf mich und meine Beschwerde­briefe angewiesen. Sie führte nämlich die Rubrik "Der Leser hat das Wort" und ich war der einzige, gegen den der Leser noch das Wort erhob. Ohne mich hätte man Frau Bütow, die inzwischen 57 Jahre alt geworden war, in Pension schicken müssen. Chefredak­teur Pohle, der mit all seiner Kraft nur eines wollte: seinen Job und seine Datscha bis zum Ruhestand, der unmittelbar bevor­stand, zu retten, brauchte mich ebenfalls: nur durch mich konnte er poltern und Führungswillen demonstrieren. Frau Warnecke dien­te ich mehr denn je als Feindbild, Herr Deppisch hatte in mir den einzigen Zuhörer für seine traurigen Geschichten. Sogar die zwergenhafte Fotografin Christa Kujath, die mich nicht ausstehen konnte, nahm mich manchmal zu ihren Fotoexkursionen mit. Sie tat das, um mir zu erzählen, wie verkehrt sie mein ganzes Leben fände. Privates und Berufliches müsse man trennen, meinte sie. Im Privaten dürfe man alles und im Beruflichen nichts. Wenn man sich konsequent daran halte, ließe es sich gut leben im Leben. Ich sagte dann immer: "Oh, bei mir ist es genau umgekehrt, liebe Frau Kujath. Privates und Berufliches bringe ich durcheinander. Dadurch kommt Schwung ins Leben, glauben Sie mir." Sie sah mich dann argwöhnisch an: schon mein Äußeres gefalle ihr nicht, brach­te sie nicht selten heraus, ihr Ideal-Mann wäre ich nicht, mein Auto wäre eine Schrottkiste oder ähnliches. "Gut gemeint, Frau Kujath," sagte ich dann, "aber Sie gefallen mir auch nicht." So ging es den Rest der Fahrt schweigend weiter. Ich dachte an Kirstins Blondhaar und wünschte die Zwergin zum Teufel, mitsamt ihrem mur­keligen R 5. Sie hatte ihren alten R 5 gegen einen neuen R 5 um­getauscht und dabei 4 000 Mark draufgezahlt. Für das Geld mußte sie zwei Jahre lang Überstunden machen. Das Ding verursachte im Großstadtverkehr Kopfschmerzen. Mein alter Wehrmachtskäfer nicht - der schirmte einen ab, war inmitten der tosenden Rush hour eine nach Holz und Führerbunker riechende Gegenwelt. Aber das hätteman der begrenzt denkfähigen Christa Kujath natürlich nicht erzählen können.

Eines Tages wurde die Setzerei abgeschafft und der Fotosatz eingeführt. Für die unbefriedigte Frau Glass und dem alt und fahl werdenden Herrn Hillesheimer brach ein neuer Abschnitt ihres Le­bens an. Ich vermißte die Setzerei, aber es gab noch die viel gewaltigere Druckerei. Oft hielt ich mich dort nachts auf und sah zu, wie die vielen Hunderttausend Zeitungen gedruckt wurden. Es war toll. Mir erschien das als die einzig sinnvolle Tätig­keit in der Bundesrepublik: diese braven Proletarier sorgten da­für, daß Leute am nächsten Morgen im Café Neumann eine frische Zeitung lesen konnten, während sie die Marzipanbrötchen aßen. Die deutsche Presse - das war was. Jeden Tag neu und frisch und vielfältig, voller Informationen und Geschichten und Kommentaren und Bildern: man konnte, selbst wenn man die Zeit hatte, nicht alles lesen. Es gab nichts vergleichbares auf der Welt. Und mitten drin, als Springer-Mann im Axel-Springer-Verlag, war ich.

Ein Springer-Mann im Axel-Springer-Verlag, ein toller Job, das hörte ich immer wieder, zu recht. Für mich war das schöne, wenn ich das "auf los gehts los“-Gefühl bekam. Dieses sich konzentrie­ren, im Büro abschließen, den Néscafé aus dem kleinen unteren Schränkchen zu holen, gedankenverloren zum Warmwasserboiler zu schlurfen, eine Minute schweigend und konzentriert zu warten, zurück zur Schreibmaschine zu gehen, in den Raum 1054, und loszu­schreiben. Schön war auch das ebenso vorbereitende und gedanken­volle Essen gehen: in den Lift (wo man schon allein war und tief durchatmete), über die Straße, in das eigentliche Springer-Gebäu­de, an den blauen, goldumrahmten Pförtnern vorbei, hinein in den Paternoster, hoch in den siebenten Stock, an den Mittagstisch. Im Handumdrehen zwei neue Springerzeitungen gegriffen. Ja, da stellte man sich bereits innerlich auf das gleich beginnende Schreiben ein. Wenn man dann nicht Angst haben mußte, ein Kollege könnte einen aufstöbern, lief der Countdown reibungslos. Das Schreiben selbst war fast immer ein genußvoller Vorgang, eine Art Sport: je kürzer die Artikel, desto besser. Ich komprimierte gerne. Aber auch lange 200-Zeiler schrieb ich mühelos, jede beliebige Länge. Vor allem, seit der Zeilenabstand von 40 auf 32 gekürzt worden war. Im Nu füllten sich die vorgedruckten Manuskriptseiten.

Zeitweise war ich dabei ziemlich mittelmäßig geworden - fand ich - und zwar, weil ich keine erste handschriftliche Fassung mehr machen wollte; ich schrieb so gern mit der Maschine. Erst ganz am Ende führte ich die erste Fassung wieder ein, zufällig. Erstaunt stellte ich fest, daß auch das Spaß machte, inzwischen. Das Ändern, Rumschmieren, Redigieren - im Grunde eine Art Komponieren. Schluderig flog der Bleistift über das Papier, sehr entspannt, alles ging von selbst. Die letzten zehn Artikel wurden so geschrieben und waren von der formalen Seite her endlich perfekt. Freilich merkte es keiner. Die Neider in der Redaktion achteten nur auf inhaltliche Mängel. Wenn ich nach nur zwei Stunden, manchmal drei, fertig war, fühlte ich mich sehr erfrischt. Es war dann halb sechs Uhr, ich war jetzt so richtig in Schwung, und der Arbeitstag war schon zu Ende - für mich. Die anderen mußten weiterarbeiten, Meldungen schreiben, die Zei­tung "machen". Die anderen kamen früher und gingen später, wenn auch nicht viel. Im Grunde war "Journalismus" auch für die anderen ein unglaublich kurzer Job. Die meisten kamen erst um 13 oder 14 Uhr, recherchierten zwei Stunden, schrieben zwei Stunden, und gingen. Nur die Unbegabten und Anfänger schindeten sich - und dann gleich maßlos. Die Volontärin Ingrid Baas war schon am Ende, als ich zur WELT kam. Sie warnte mich inständig: „Komm nicht hier her! Die ver­heizen dich! Hier mußt du nur tippen" etc. Bärbel Wieschermann stöhnte oft beim Meldungenschreiben. Detlev Ahlers war von morgens neun Uhr bis nachts 24 Uhr im Einsatz. Seine Freundin wohnte in München, Hamburger kannte er keine, also blieb er in der Redaktion, wo es immer interessant zuging. Chefredakteur Tiedje hatte mir ein­mal gesagt: "Sie müssen damit rechnen, demnächst einen Zweijahres­vertrag zu bekommen: Sie müssen dann in der ersten Zeit bis zu 14 Stunden am Tag arbeiten. Das ist so." Aber - von diesen Ausnahmen abgesehen hatte der normale WELT-Redakteur einen 4-Stunden-Tag. Ich hätte damit alt werden können, ich hätte auch, wie Ahlers, ein Vier­teljahr Dampf machen und 10.000 DM verdienen können. Ich hätte auch aufsteigen und in der kurzen Zeit von nur zwei bis drei Jahren Kar­riere machen können. Noch immer hielten sich hartnäckig die Gerüch­te, ich sei ein "ungeschliffener Edelstein", ein "Wirklich großes Talent". Wenn ich es nicht tat, so lag das an meiner Unfähigkeit, die Wahrheit zu schreiben, genauer: langweilig zu schreiben. Immer, wenn die Wahrheit nichts hergab und langweilig war, setzte ich ge­radezu zwanghaft eigene Phantasie dazu. Immer, wenn ich falsch ein­gesetzt wurde und über die Erhöhung der Hundesteuer und ähnlich Geistloses berichten sollte. Es war klar, daß ich so etwas nicht ernst nehmen konnte. In der Regel wurden bei solchen Artikeln alle meine guten Stellen wegredigiert. Übrig blieben verkrüppelte und verpfuschte Dinger, ernsthaft, aber fehlerhaft. Bevor sie darauf kamen, daß ich flunkerte, druckten sie viele solche heil geblie­benen Hundesteuer-Schwachsinns-Artikel ab. Bestes Beispiel: ein Harburg-Bericht, der über eine Sitzung des Harburger Bezirksparla­ments gehen sollte und den ich ausschließlich damit füllte, die Parlamentarier hätten sich über den mausgrauen Anstrich der Harburger Laternen (PAL-Farbe 90007) gestritten. Ich weiß nicht, ob ich auch anders gekonnt hätte. Die Verlockung, das zu schreiben, was ich wollte, war stets da und stets viel zu groß. Hinzu kam, daß es mir unheimlich war, so lange bei der WELT zu sein. Ein Trip hat­te es werden sollen und kein ausgewachsener Beruf für die nächsten zehn Jahre. Denn dann war das Leben vorbei, dann hätte ich ewig bei der Stange bleiben müssen. Da es mir aber immer besser in der WELT gefiel, mußte ich, wollte ich mir nicht alles verderben, diesen Zustand heimlich und unterbewußt destruieren. Monatelang stand es auf Messers Schneide: ein einziger Fehler weniger und ich wäre nach Bonn geschickt worden. Von da aus hätte es kein Zurück mehr gegeben. Ein beträchtlicher Teil meiner "Fehler" ging übrigens schlicht da­rauf zurück, daß ich Lust an marktschreierischen Sätzen hatte. Die Kollegen recherchierten nicht besser als ich, schrieben dann aber so farblos, daß sich kein Leser mehr fand, der sich über den einen oder anderen vielleicht einseitigen Aspekt aufregte. Denn, wie sehr muß ein Mensch innerlich erregt sein, bis er sich daran macht, einen Beschwerdebrief deswegen zu verfassen. Nein, das gab es nur bei meinen Artikeln. So kamen Beschwerdebriefe zustande, die mich, was die Wahrheit anbetraf, zu Unrecht angriffen, die sich "nur" an der Art und Weise entzündet hatten, wie ich die (ihre) Gegenseite dar­gestellt hatte. So hatte ich, um ein Beispiel zu nennen, ein viel zu flottes Feature über die Einführung der Sofortausleihe in der Staatsbibliothek geschrieben: Professor Sowieso bekäme immer Kopf­schmerzen, wenn er sein Buch nicht schnell genug 1n den Händen hätte, und ich beschrieb 180 Zeilen lang diesen Professor, kaum jedoch die drögen und sich von selbst verstehenden Statements der Staats­bibliothek, der Behörde, des Buchverbandes, der Universität. Aller­dings, ich hatte mir besondere Mühe gegeben: was gesagt werden

mußte, stand darinnen, alle nötigen "Dadsachen". Der Beschwerde­brief, den ich tags darauf erhielt, ereiferte sich deshalb nur darüber, daß ich Bibliothekare fälschlicherweise Archivare genannt hatte. Archivare klang schöner, hatte ich mir gedacht). Nun - ein Beschwerdebrief war es trotzdem und ich wurde wieder für zwei Tage scheel angesehen. Komischerweise nur für zwei Tage. Die Verjährungs­zeit war immer erstaunlich kurz. Länger als eine Woche dauerte es nie. Dann war alles verziehen. Schmerzhaft trotzdem: tagelang ge­schnitten werden und keinen Auftrag bekommen - bitter. Ich mußte in dieser Zeit immer auf alte Aufträge zurückgreifen, welche, die ich am wenigsten mochte. Ich schrieb dann lauter Reportagen, die sich langsam beim Nachrichtenführer, dem dunklen Groetecke, stapel­ten, bis mir die Lust nachhaltig vergangen war. Dann stand ich nur noch - fahl wie Ahlers - im Produktionsraum (während der Konferenz) und war in Gedanken schon weg von der WELT. In mein Tage- und No­tizbuch schrieb an solchen Tagen: "Heute letzter Tag bei der WELT". Sowie: "Nochmal die Fratzen alle angucken. Nett und lustig sein!" Aber dann purzelten die ganz großen Aufträge auf mich ein und es ging wieder weiter. Zwanzigmal ging das so. Eine gleichmäßige Wel­lenbewegung. Anscheinend steckte System dahinter. Eines, das wohl nur mir galt - denn die anderen wurden anders behandelt. Sie waren auch weniger present als ich. Jeden zweiten Tag nahmen sie Urlaub, oder sie hatten "Termine" und konnten deswegen nicht kommen. Nie waren sie selbst das Thema einer Produktionskonferenz. Nur dieser Herr Deppisch war täglich zu sehen. Der war froh über jede Minute, die er nicht in seinem traurigen Bungalow sein mußte. Und Ahlers, aber der musterte dann als erster ab. Der blöde Groetecke kam um zwölf Uhr und war der erste. Ich saß dann schon manchmal im gleich angrenzenden Büro von Herrn Dalchow und tippte. Sonst war es ruhig. Nur Deppisch saß, als lebendes Inventar, am Ende des hufeisenför­migen Tisches und blickte nachdenklich nach draußen, wo meist ein trüber hamburger Regenhimrnel vorbeizog. Die grauen Betonburgen des Springer-Imperiums (alle Gebäude in diesem Viertel hatten mit der Springerpresse zu tun) eigneten sich gut für kalte Nordostwinde, die an den Fenstern rüttelten und heulten. Morgens, wenn nur der stumme Herr Deppisch und der dunkle Groetecke da waren, hörte man es. Groetecke tat nicht viel in den ersten Stunden. Er legte Benny Good­man und amerikanischen Swing der frühen Vierziger Jahre auf, zün­dete sich eine Reval an und verschwand dann bald, um mit seiner Freundin (er sagte "Partnerin") essen zu gehen. Auf diese "Part­nerin" war er stolz. Jeder sollte mitkriegen, daß er sein Leben gut eingerichtet hatte: erst Heirat und Kind, dann Probleme, aber aus

den Problemen Lernprozesse abgeleitet, Konsequenzen gezogen, neue Lebensformen gefunden, ohne die alten verdrängen zu müssen, alles

mit Anstand und Vernunft in den Griff gekriegt, Freundin gefunden, ausprobiert, angeheuert, ausgesprochen, Heirat als Formalismus ab­geschrieben, von HB auf Reval umgestiegen, von Antikmöbeln auf Ikea, von Opel auf Citroen. Und jetzt ging er täglich mit der "Partnerin" essen und unterhielt sich mit ihr über Ökologie. Er war vor allen Dingen eines: "sachlich". Und eines ganz bestimmt nicht: unterhalt­sam. Er war gewöhnlich und langweilig. Ein schrecklich ermüdender Kerl. Wie gesagt, ich hatte ihn nie gemocht. Jetzt, da alle interes­santen Leute gegangen waren und von den Großen nur noch er und Poh­le übrig waren, fühlte er sich erst richtig wohl. Er verhielt sich wie The Big Boss, schweigsam, langsam, gewichtig, mit Kunstpausen vor jedem seiner machtschweren Statements. Innerhalb eines halben Jahres war er vom Ökologen zum Mafiaboss mutiert. Bevor er zur WELT kam, war er bei der Neuen Illustrierten tätig gewesen…

Das Schönste und wohl Wichtigste meiner Zeit bei der WELT waren die späten Abende mit Chefredakteur Tiedje. Ich mußte mich immer um 23 Uhr 15 in der Redaktion einfinden. Die Zeitung für den nächsten Tag war dann fast fertig. Tiedje rannte aufgeregt fünf Schritte auf und ab und erzählte Westernfilme, die er gesehen hatte. Man merkte dann, daß er eine Vorliebe für das Knallige, Brutale, Cha­otische hatte. Jedes Mal erzählte er dieselben Filme: Django der einsame Rächer, Gott vergibt - Django nie, Für eine Handvoll Dollar, Tote pflastern seinen Weg. Tiedje erzählte, nein spielte, jede ein­zelne Szene. Vor ihm standen die jungen Volontäre und hörten atem­los zu, vor allem Ahlers. Tiedje war jedesmal aus dem Häuschen, exaltierte sich, fand kein Ende. Es wurde halb Ein Uhr, ehe das aufhörte. Die Nachtwächter wußten schon Bescheid - "dieser Kerl spielt wieder Cowboy" - hatten aber immer wieder Angst, es könnten doch Einbrecher sein. Zu zweit fuhren wir in ein mieses 08/15-Restau­rant, meistens irgendein Italiener. Mies ist der falsche Ausdruck, es war nur so völlig normal und geschmacklos: grünes Holz, rusti­kale Bauernlampen, Tische ohne Tischdecken, die Getränkekarte mit vier verschiedenen Ur-Bock-Bieren, aber ohne Calvados oder Gintonic. Die weitere Dramaturgie bestimmte der Chefredakteur. Wenn ich da­gegen unbeschwert das Wort ergriff und das Gespräch in die Hand zu nehmen drohte, kam er in Schwierigkeiten. Er wurde unsicher, was nicht zu ihm paßte, der ganze Abend bekam etwas existentiell Ver­kehrtes, Schwankendes. Man konnte nur abwarten, bis er zu seiner alten Rolle zurückfand und solange lieb und bescheiden tun. Er leg­te dann los, prahlte und berauschte sich. Es war toll. "Lottmann, was glauben Sie, was Boenisch mir geboten hat, um mich zu halten!" Ich wußte es nicht, mußte aber raten. "Zehntausend im Monat?" Er lachte. "Haha, Lottmann! Ich sage Ihnen. Aber ich muß mich hundert­prozentig auf Sie verlassen können. Ist das klar!" Ich versicherte ihm, wie schon zig-mal davor, daß ich keinen Vertrauten im Verlag hätte. Er wisperte aufgeregt: "Eine sechs-stel-li-ge Zahl! Lottmann!" Ich fuhr auf: "Hundert - Herr Tiedje, das sind ja Hunderttausend Mark!" Tiedje strahlte. Eine Viertelmillion in zwei Jahren. Man konnte anscheinend wirklich Geld im Journalismus verdienen. Tiedje besaß schon mehrere Häuser. Wir nickten uns anerkennend und kompli­zenhaft zu, dann kam das nächste Thema: Tiedjes ruhmvolle Zeit in Bonn. Dort war er aufgestiegen, in der dortigen WELT-Redaktion. Er hatte sie alle reingelegt, abgeschossen, überrundet, zu Freunden gewonnen und/oder hochgehen lassen/bloßgestellt/gemieden/ abgefunden. Wieder spielte er, wie vorher beim Djangofilm, die Szenen durch. Er ereiferte sich und ich hörte gerne zu. Ich dachte: "Das ist es nun! Hier ist der Kern des Ganzen. Die geheimsten Geheimnisse des beruflichen Triumphes!" Im Tage- und Notizbuch stand: "Abends bei Tiedje gut zuhören! Alles genau merken!" Jedoch - ich merkte mir kaum etwas. Eine Stunde später - und alles war weggewischt. Die vielen Namen vergaß ich auf der Stelle. Hatte nun Zehm gebrüllt, oder Rudolf? Und Tamm war von Springer in den geheimen Planungsstab geschickt worden, oder war es Prinz? Wer hatte Jasmin und Bravo und Eltern erfunden, Tiedje? Und Michael Jürgs und Claus Jacobi waren auch in Bonn? Oder nur bei Capital, beim Spiegel, bei der Deutschen Welle? Polcuch war ein persönlicher Freund Springers und durfte auch linkes Zeug schreiben, das erinnerte ich noch. Aber Tiedjes Verhältnis zu Springer - keine Ahnung mehr.

Schön war Tiedjes Abschied bei der WELT. Alle 30 Mitarbeiter stan­den im Flur, an der Stelle, wo ich immer der Frau Bütow begegnete, wenn ich Kaffee holte. Es gab das übliche: Frascati, Weißwein, Rot­wein, Sekt, dazu französischen Camembert und Tafelbrot. Annerose, die gerade einen Tag in Hamburg war, hatte ich mitgenommen. Es war ein Donnerstag Abend, genau gesagt der 19. Juni 1980. Alle bestaun­ten Annerose, die im New-Wave-Look gekommen war. Sie hatte einen Marsmännchen-Anzug an, in violett, dreieckige Revers und Ohrclips. Sie war das erste mädchenhafte Wesen in der Redaktion, denn auch

die weiblichen Mitarbeiter waren bei uns mannhaft und bullig. Doktor Guratsch küßte ihr die Hand und blieb minutenlang grinsend vor ihr stehen. Dabei sagte er: "Ihre Frau ist äußerst charmant… sie ist wirklich, wenn ich so sagen darf, bemerkenswert… mein Kompliment, Herr Lottmann, Ihre Frau ist, äh, bezaubernd… " Annerose kicherte und knickste, schlug die Augen fortwährend auf und nieder, fühlte sich geschmeichelt und sagte: "Oh, das ist aber nett, vielen Dank, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll… " Frau Bütow stand plötz­lich vor uns. Ich hatte sie lange nicht mehr gesprochen schließlich war ich es leid, zu sehen, wie sie vor ihrer Vorgesetzten gebuckelt hatte. Sie sagte: "Sie sind also Frau Lottmann, wie schön! Wissen Sie, ich halte immer mein schützendes Händchen über Ihren Mann." Ob das stimmte? Ich glaubte es nicht. Dann ging es weiter zu Tiedje. "Ihr Mann ist ein großes Talent und er weiß das. Das ist das Schlim­me." sagte er. Ein langer Monolog über mein angebliches Talent war nicht mehr aufzuhalten. Annerose hörte höflich zu. Ihr war seit An­fang unserer Freundschaft 1973 grundsätzlich egal, wie ich schrieb. Ein Herr Wessendorf gesellte sich dazu, genauer: Tiedje zog ihn mit heran, stellte ihn großartig vor: "Lottmann! Das ist Herr Wessen­dorf - ! Herr Wessendorf, das ist Lottmann, eines unserer größten Talente im Hause Springer. Im Ernst!" Ich wollte meine Hand aus der Hosentasche hervorholen, verspürte aber plötzlich keine Lust mehr dazu, als ich in das Gesicht dieses etwa vierzigjährigen Kerls guckte. Da entdeckte ich zwei so nichtssagende, blöde Augäpfel, daß wie mich abwenden mußte. Tja, so war das mit Tiedje: ein netter Mann, aber nett auch zu den Doofen. Es ging weiter zu (erneut) Dok­tor Guratzcsh. Der sagte: "Frau Lottmann, liebe gnädige Frau, Ihr Mann ist ein verborgener Diamant. Noch nicht geschliffen, leider, aber - " er suchte nach einer neuen Metapher, Annerose unterbrach ihn: "Aber sehr wertvoll jedenfalls, nicht wahr?" Dr. Guratzsch war einverstanden. "Ja! Wir werden, da bin ich mir sehr sicher, immer mit ihm, wenn auch unter Reibungsverlusten, zusammenarbeiten können. Es ist niemals unproblematisch mit Ihrem Mann, aber dennoch kommen wir gut voran mit ihm… " Herr Polcuch kam hinzu. Tiedje zeigte mit dem Finger auf ihn und teilte mir aufgeregt mit: "Polcuch ist mein Freund!" Ich wußte es schon. Tiedje hatte das schon oft erklärt. Was meinte er nur damit? Es mußte etwas mit Verbindlichkeit zu tun haben. Es klang so, als hätte Herr Polcuch dem Chefredakteur einmal das Leben gerettet. Ich flüsterte zu Tiedje: "Seltsam - dieser Polcuch hat mich einmal öffentlich an den Pranger gestellt, weil ich seine Kaffeetasse benutzt hatte." Polcuch hörte das, streckte mir die Hand entgegen und rief: "Doch kein Grund für einen Dreißig­jährigen Krieg!" Da hatte er recht. Ich schlug ein.

Ich ging in mein Büro und tippte einen Abschiedsbrief für den Chef­redakteur. Annerose wurde inzwischen von Dr. Guratczh weiter vorgestellt. Später erzählte sie mir, sie sei auch Herrn Pohle, der neuen Nr. 1, vorgestellt worden. Der verhielt sich wie stets loyal und höflich. Eigentlich mochte mich dieser Herr Pohle am meisten. Ich wußte, er würde mich fast bis zum Schluß decken. Eine Kündigung würde er niemals aussprechen - dazu war er viel,zu sehr ein Menschenfreund und Idealist. Das Gute im Menschen würde sich eines fernen Tages nach oben arbeiten, wenn man ihm nur eine stets neue Chance gäbe, davon war Pohle überzeugt. Er glaubte an "Die jungen Menschen" und in seinen Augen fiel ich darunter. Ich war 31 Jahre jünger als er, deswegen wohl galt ich ihm als jung. Ich hatte demnach noch alles vor mir, die Weltkriege, die Inflation, den Wieder­aufbau, die eigene Familie, das eigene Haus mit Hof, Kindern und Pferden, wie er es hatte. Wenn ich ihn in seinem großen Chefzimmer besuchte, war er immer sehr nett und teilnehmend gewesen. Jetzt stand er vor Annerose und sagte, indem er eine respektvolle leichte Verbeugung machte: "Wir haben uns noch nicht kennengelernt, Frau Lottmann. Mein Name ist Pohle, ich freue mich, Sie bei uns in den Räumen der WELT begrüßen zu dürfen… " So drehte sich alles wieder um die Großen. Die kleinen, normalen Mitarbeiter, wie Herr Naumann (der die Gaulloiseswerbung nachlebte), Frau Schütte (die tödlich uninteressanten Krankenhausgeschichten schrieb) und all die zwanzig anderen - sie blieben Luft. Ich sprach nicht mit ihnen, sie spra­chen nicht mit mir - gut so. Ein gutes Zeichen, letztendlich. Das, was mir angeblich zum Verhängnis werden würde ("Lottmann! Sie kön­nen nicht im Team arbeiten, das wird Ihnen das Genick brechen!"), mußte nun zu meinem größten Trumpf werden.



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