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Die Wörter für meinen Sarg (1)
zu Kompositionen für Alphorn von Georg Haider
erstens ist das Meer nicht perlmuttgrau,
die Möwen sind nicht weiß, der Sand
weder gelb noch grau, nicht einmal das
Gras ist grün oder gelb, das tiefe Gewölk
nicht violett –
Max Frisch, Montauk
I
Schultz lud uns in sein Haus ein, oder besser gesagt, er stellte es uns zur Verfügung. Er hatte uns an demselben Abend erst kennen gelernt, offenbar machte ihm das keine Sorgen. Seine Sicherheit und sein Selbstbewusstsein beeindruckten mich. Schultz war Architekt, vor allem jedoch ein lässiger alter Mann mit der Ausstrahlung dessen, der die Welt und die Leute kennt. Das Leben schien kein Rätsel mehr für ihn bereit zu halten. Ich sagte ihm, dass wir am nächsten Tag zurück in die Schweiz reisen müssten. „Bullshit“, erwiderte Schultz, „du bist Künstler. Du musst gar nichts. Sag ihnen, du brauchst noch eine Woche. Sie werden deinen verdammten Flug schon umbuchen.“ Ich konnte in Evas Augen sehen, dass sie sich bereits entschieden hatte. „Wird deine Frau nichts dagegen haben?“, fragte sie den alten Mann. Er lachte.
„Ich rufe sie an.“
Er ging nicht etwa zu ihr hin, er rief sie an, obwohl sie, genau wie wir, irgendwo auf dieser riesigen Party rumschwirrte. Schultz‘ Frau war nicht einfach irgendeine Schriftstellerin, sie hatte den National Book Award bekommen. Ihr Name sagte mir allerdings nichts und ich freute mich insgeheim, dass wir sie nicht zu Gesicht bekommen würden. Ich wollte kein Gespräch über Literatur beginnen, schon gar nicht mit einer Ikone, von der ich nichts gelesen hatte und der ich über meine Arbeit nichts Nennenswertes hätte berichten können. Außerdem war ich sehr müde. Schultz quatschte auf ihre Mailbox. Fünf Minuten später rief sie zurück, sie war einverstanden, so erklärte uns Schultz. Wir nahmen das Angebot an. Eine Woche Long Island, eine Woche Urlaub, redete ich mir ein, müsste nach der Lesereise gut tun. Ein Rest von innerem Widerstand blieb trotzdem, er wuchs sogar wieder, als Schultz erklärte, sie selbst seien noch nicht eingezogen und das Haus in einem quasi jungfräulichen Zustand.
„Macht euch deshalb keine Sorgen. Es ist alles vorhanden.“
Eva und ich sahen uns an, ich sah ihre Augen leuchten und wusste gleichzeitig, dass meine nicht leuchteten. Ich nahm sie in den Arm. Ich legte eine Hand auf ihren Arsch und drückte sie gewohnheitsmäßig an mich. Ich spürte den Hauch ihres Atems an meinem Ohr.
„Oh, Peter“, sagte sie, „das ist fantastisch. Danke!“
Ich fragte mich, warum sie mir dankte, wenn Schultz uns eingeladen hatte. Vielleicht gefiel ihm einfach nur ihr super Dekolletee. Mir war nun klar, dass ich lieber zurückgereist wäre. Fünf Städte in sieben Tagen, tausende Flugkilometer und das ständige tun, als wäre man jemand, hatten mich geschafft. Ich glaube, das war der Punkt, und nicht irgendeine Vorahnung.
„Du wirst noch mal groß rauskommen“, sagte Schultz zu mir, „ich spüre das.“ Er schien vor allem zu spüren, was man gerade so dachte. Ich schaute an ihm vorbei auf die Art-Déco-Säule, und ließ ein Nichts auf meinem Handrücken abwechselnd nach links und rechts kippen.
Schultz behielt recht, die Organisatoren buchten ohne weitere Umstände unseren Flug um. Sie mieteten ein Auto, das wir nicht mal selbst bei Hertz abholen mussten. So kamen wir nach Montauk.
Kurz nach drei bogen wir auf Schultz‘ Grundstück ein. Es ging fast kein Wind und doch rochen wir sofort das Meer. Es wirkte blau. Auch der Himmel war blau, Gras und Bäume leuchtend grün. Wunderschön. Wie hätte es auch anders sein können. Eine Zeitlang starrte ich auf den Rasen, heftete meinen Blick auf den allernächsten Baum. Bloß kein Panorama! Bloß kein schönes Fleckchen Erde, es kotzte mich alles an. Hätte man doch sagen können, dass das Grün schlapp wirkte und der Himmel leicht verschleiert. Aber das traf nicht zu.
Eva war sofort zum Haupthaus gelaufen, ohne dem Gästehaus die geringste Beachtung zu schenken. Langsam folgte ich ihr. Die Residence lag auf einer Anhöhe, nur ein paar Schritte vom Meer entfernt. Hier gab es eine Terrasse mit fetten weißen Platten, die auch den Boden im Inneren des Hauses bildeten, wie man durch die voll verglasten Wände sehen konnte. Es wirkte auf mich, als stände das Haus auf einer Legoplatte. Ein Paar riesiger Hände hatte das Bauwerk hier abgestellt. An der Ecke kragte ein dem Anschein nach aus dem Rasen wachsender Fels über die Grenzlinie zwischen dem Weiß und dem Grün. Wahrscheinlich sollte er die Verbindung zwischen Haus und Landschaft herstellen. In Wahrheit sagte er, dass alles hier, auch das Gras und die Sträucher, unecht war. Kurz hinter dem Findling (oder war es gewachsener Fels, eins mit dem tiefen Innern der Insel?) lag Eva auf einem ungepolsterten Deckstuhl und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Ich sah den Wellenkämmen zu, die in endlosen schnurgeraden Linien auf den Strand ritten. Als ich merkte, dass Eva mich anschaute, wandte ich den Blick zurück zu ihr.
„Was gefällt dir nicht?“, fragte sie.
„Was glaubst du – haben Sie unterseeisch besondere Wellenbrecher installiert, die diese Meereswogen modellieren?“
Lieber hätte ich geantwortet: alles bestens. Aber dafür war es zu spät gewesen. Eva hätte gemerkt, dass ich log.
„Was willst du da modulieren? Sie sind so schon perfekt. Come on, entspann dich.“
Diese englischen Phrasen hatten sich bereits am zweiten oder dritten Tag in unsere Gespräche geschlichen. Es waren gebieterische kleine Stücke einer Sprache, die einfach cooler war als unsere. Biegsamer, lustvoller. Demokratischer. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich sofort zu ihr übergelaufen.
Als Eva die Arme ausstreckte, stolperte ich vorwärts und ließ mich auf sie fallen. Ich hatte Vertrauen in die Qualität des Kunststoffs und wurde nicht enttäuscht. Der Stuhl blieb fest. Eva ließ geräuschvoll ihre Atemluft entweichen. Dabei machte sie deutlich, dass es Teil des Spiels war so zu stöhnen. Ich hatte ihr nicht wehgetan. Meine Wange rieb über das halbsynthetische Gewebe ihrer Strickweste. Ich sog den Geruch ein, den ich für ihren hielt, auch wenn ich wusste, dass es ein Gemisch von Waschmittel und Deoroller war. Ich fühlte mich wohl.
Zum ersten Mal betrachtete ich ausführlich den langen schmalen, auf Stahlständern ruhenden Riegel, der das Gästehaus bildete. Fast in der Mitte führte eine leuchtend gelbe Wendeltreppe zu den Zimmern hinauf. Von außen wirkte es, als könnte da ein Dutzend Leute wohnen. Eva schob die Sonnenbrille in ihr Haar. Sie schloss die Augen. Wir küssten uns.
II
Die salzige, sauerstoffreiche Luft im Schlafzimmer machte mich benommen, trotzdem schlief ich kaum. In den Nächten davor hatten mich die Gebläse der Klimaanlagen und das unentwegte Heulen und Pfeifen der Ambulanzen gestört, nun fehlten sie mir. Das diffuse Rauschen des Meers betonte bloß die Stille dieses Orts. Dazu kam, dass ich mich kaputt fühlte. Eine Stimme in mir sagte: Du musst schlafen oder du wirst am nächsten Tag noch kaputter sein. Einmal döste ich ein und wachte nach höchstens fünf Minuten wieder auf. Evas Atem war tief; ich fand ihn laut. Irgendwann drehte sie sich auf den Rücken und fing an zu schnarchen. Es klang beinah zurückhaltend, doch als einziges Geräusch in dieser endlosen Nacht machte es mich halb wahnsinnig. Wenn ich sie anstieß, wurde sie für zwei Atemzüge still, aber es kam wieder, zunächst wie ein kleiner Kratzer auf einer Schallplatte, den man freundlich überhört, bald jedoch als unausgesetztes Rasseln. Ich nahm mein Kopfkissen, von dem ich eigentlich wusste, dass ich es nicht brauchte, und floh aus dem Bett.
Das Gästehaus bestand, wenn man so will, aus sechs Räumen, die keines-wegs, wie wir zunächst vermutet hatten, für mehrere, voneinander unabhängige Parteien gedacht waren. Vielmehr waren die Funktionen strikt getrennt, für alles war großzügig Platz geschaffen worden. Die einzelnen Bereiche wurden durch farbige Wandscheiben unterschieden, zu dem schmalen seitlichen Gang hin, der sie alle verband, gab es jedoch keine Abtrennung. Eva und ich hatten sämtliche Lichter gelöscht. Die Nacht war so dunkel, dass die kräftigen Farben der Wandpaneele größtenteils nur zu raten waren.
Lautlos zog ich mich in das zweite Schlafzimmer zurück. Anfangs fror ich, aber bald fand ich die Frische der Bettlaken angenehm. Hier war das Fenster geschlossen, hier hörte ich Evas Atem nicht. Die Stille war also vollkommen, doch sie störte mich nicht länger. Der Schlaf kam trotzdem nicht. Stattdessen defilierten zahllose Gesichter und Gestalten der letzten Tage vorüber, Menschen, die mich von Hotels abgeholt und wieder zurück gebracht hatten, Menschen, die mich freundlich fragten, ob ich Wasser auf der Bühne wünsche, die mich zum Essen ausführten und mit mir über meine Arbeit plaudern wollten, Menschen, die nach meinen Lesungen mit Büchern in der Hand vor meinen Tisch standen und sich außer der Unterschrift im Buch noch ein persönliches Wort von mir erhofften, manche mit einem bewundernden Glanz in den Augen, der mich bestürzte. Ganz ähnlich war es bei meiner Tournee durch Deutschland schon gegangen – die Deutschen sind viel weniger nüchtern und skeptisch als die Schweizer, und ich war dort viel erfolgreicher als daheim. Das Feedback, auf das mein Buch in den Staaten stieß, musste ebenfalls hervorragend genannt werden. Ich konnte all diese Dinge kaum mit mir in Verbindung bringen. Das war im Grunde eine gesunde Reaktion, schließlich gibt es kaum etwas Gefährlicheres als zu glauben, Applaus und Bewunderung eines Publikums gälten einem selbst. Bei dem ganzen Rummel geht es nie um den Menschen hinter dem Buch, auch wenn alle permanent so tun. So viel glaubte ich kapiert zu haben. Aber es ging doch um etwas, das ich gemacht hatte. Meine Texte bildeten die Brücke. Je mehr Zustimmung ich jedoch für meine Geschichten bekam, desto widerwärtiger wurden sie mir. Ausgedachte, albern zugespitzte Begebenheiten, die Anspruch auf Wahrscheinlichkeit erhoben. Figuren, die sich nicht mal ansatzweise an der Vielschichtigkeit messen ließen, welche das Leben ausmacht. Ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Ich konnte die Leute, die das wertschätzten, nicht ernst nehmen. Eva dagegen stand meinen Texten eher kritisch gegenüber. Manchmal glaubte ich, sie hätte von dem, was mich quälte, ebenfalls eine Ahnung. Ich war froh, dass sie mich begleitete. Wie der Ballon, der nicht völlig zum Spielball der Winde werden will, sich über die Schwere des Sandsacks freut. Dieses Bild, ich der Ballon und Eva der Sandsack, fand ich gemein. Dass ich ihren Atem nicht ertrug, kam mir noch mieser vor.
Erst gegen Morgen schlief ich richtig ein. Ich träumte von Schultz’ Frau, von der ich eigentlich gar kein Bild hatte. Im Traum hieß sie Susan und war unglaublich jung, fast noch ein Mädchen, mit halbentwickelten Brüsten, auf die ich große Lust bekam. Aus irgendeinem Grund trug sie kein Hemd. Ich lief hinter ihr her, verlor sie aber an einem Subway-Abgang. Auf der Suche nach ihr wühlte ich mich durch ein Gewirr von Gängen und Treppen, vorbei an erstaunlich wenigen Leuten. Irgendwann suchte ich nur noch einen Weg zurück an die Oberfläche.
Als ich erwachte, schien die Sonne ins Haus. Ich konnte durch die kreis-runden Löcher einer Brüstung vor dem raumhohen Fensterband direkt in Schultz‘ unbewohntes Haupthaus schauen. Man blieb hier offensichtlich unter sich – wie sonst wäre diese überbordende Transparenz zu ertragen? Wenigstens der Himmel bedeckte sich mit vereinzelten Wolken. Ich rechnete fest damit, durch die Bettdecke hindurch meinen erigierten Penis betrachten zu können. Zu meinen Häupten leuchteten im Morgenlicht die Holz- oder Kunststoffpaneele als Marker dieses Schlafbereichs. Ich sah meinen Steifen nicht, nur eine Wölbung in der Decke. Ich hörte eine Stimme etwas rufen. Ich dachte, „zu meinen Häupten“ wäre ein geiler Ausdruck, schon so weit weg von uns, dass man ihn kaum noch verstand. Ich erkannte die Farbe dieses Bereichs, in dem ich aufgewacht war, zweifellos als grün.
III
Um Eva nicht zu wecken, stand ich lautlos auf. Ich musste nicht pinkeln und schlich mit meinem Macbook Air unterm Arm gleich nach nebenan. Der Arbeitsbereich bestand im Wesentlichen aus einer sechzig Zentimeter tiefen, raumbreiten Arbeitsplatte aus schönem Vollholz, vermutlich Kirsche oder Birne. Sie schloss an das Fensterelement an, das in diesem Segment des Gästehauses zurückgesetzt war. Draußen konnte man sich also hinsetzen. Die Fenstertür befand sich allerdings im nächsten Segment, dem Wohnbereich. Wieder zog das so gut einsehbare unbewohnte Haupthaus meine Blicke an. Es ist ein Modell, dachte ich, das 1:1-Modell eines Hauses. Hinter ihm streckte sich, noch verschlafen, das Meer.
Ich hatte keine besondere Arbeitsabsicht. Wenn ich nicht an einer bestimmten Geschichte schrieb, versuchte ich gewöhnlich, jeden Morgen wenigstens eine Seite zu tippen. Der Inhalt war dabei ziemlich egal, ebenso die Qualität oder Literarizität, wie wir das auf der Uni genannt hatten. Es gab nur eine Bedingung: nichts Tagebuchmäßiges. Auf meiner Lesetour hatte ich mich allerdings dermaßen leer gefühlt, dass ich den Kasten nicht mal mehr aufklappen mochte. Ich ließ den Rechner zum ersten Mal seit Tagen hochfahren. Rechts von mir, in dem orangefarbenen Paneel entdeckte ich nicht nur eine Strom-, sondern auch eine Ethernet-Steckdose. Deshalb lag das Verbindungskabel auf dem Schreibtisch, als hätte es jemand da vergessen. Ich würde in ein paar Sekunden online sein. Ich würde trotzdem nicht nach meinen E-Mails schauen.
In dem Moment hörte ich die Toilettenspülung und gleich darauf, nur kurz, das Rauschen der Dusche. Sie war wach.
„Peter!“
Ich ließ den Rechner stehen und ging zu ihr hin. Eva stand nass unter der Brause, die direkt aus der Decke kam, sie fröstelte sichtlich. Ich betrachtete sie und fragte mich, warum wir schon so lange nicht gevögelt hatten. Seit wir hier waren, nicht, seit wir in den Staaten waren, nicht, schon seit ich auf Lesetour war, nicht. Eva sagte nichts. Ich schaute ihre Brüste an, die dunklen Höfe hatten sich vor Kälte zu trutzigen kleinen Burgen formiert. Ihr Schamhaar war nass und hing gerade herab. Ich bekam Lust auf sie und ich wollte sie wärmen. Ich zog ein Handtuch von der verchromten Haltestange an der Wand.
„Irgendwas stimmt nicht mit der Dusche.“
„Ausgeschlossen. In diesem Haus funktioniert alles. Es definiert sich über Perfektion.“
„Aber irgendwas ist da komisch.“
„Was denn?“
Eva war wie Schultz Architektin und kannte sich mit solchen Sachen besser aus als ich.
„Das Wasser fühlt sich so komisch an. Nicht so, als würde es aus einer Brause kommen.“
„Wie denn?“
„Wie warmer Regen. Nein, noch mal anders.“
Ich trat vor und stellte das Wasser an. Obwohl ich nur die Hand unter den riesigen Brausekopf hielt, merkte ich gleich, was sie meinte. Das Wasser war so perfekt lauwarm, dass man es auf der Haut kaum spürte, außerdem fiel es in dichten, sehr weichen Tropfen herab.
„Fühlt sich doch gut an. Bestimmt ist da so ein Perlator drin oder wie das heißt.“
„Ich weiß nicht. Ich finde es komisch.“
„Schau mal, an der Wand ist so ein Bedien-Panel. Bestimmt kannst du dir was Passendes einstellen.“
Eva machte keine Bewegung. Sie zog nur das Handtuch fester um ihre Schultern. Seit sie nicht mehr nackt vor mir stand, begehrte ich sie überhaupt nicht mehr.
„Fuckin‘ luxurious. Ich werd mich am Becken waschen.“
Ehrlich gesagt hatte ich nicht die geringste Ahnung, was sie an der Dusche so abstieß. Ich nahm mir vor, später alle Alternativen durchzuprobieren, die das Panel bot. Ohne Angst etwas Unangenehmes zu erleben, ohne Angst etwas kaputt zu machen. Eva versuchte, die Nässe aus ihrem Haar zu kämmen.
„Warum hast du mit ihr gesprochen?“
„Mit wem denn?“
„Mit Susan. Nur weil sie eine erfolgreiche Schriftstellerin ist?“
Ich hatte gar nicht mit ihr telefoniert.
„Ich hab gar nicht mit ihr telefoniert.“
„Du hast sie angerufen und sie gefragt, ob es ok für sie ist, wenn
wir hierher kommen.“
„Das war Schultz. Er hat mit ihr telefoniert. Sie ist seine Frau.“
„Ich weiß, wer sie ist. Du hast mit ihr telefoniert. Woher kennt ihr euch?“
Was soll man tun, wenn jemand dermaßen starke Meinungen über etwas hat, das jeglicher Grundlage entbehrt? Ich hätte mir vielleicht da schon Sorgen machen sollen, aber ich war einfach ärgerlich.
„Ist das, weil wir nicht miteinander geschlafen haben? Hättest du gern mit mir gevögelt, habe ich ein Zeichen von dir übersehen?“
„Ihr kennt euch. Du hattest so einen vertrauten Ton, ich habe es ganz genau mitgekriegt.“
„Sie ist ’ne alte Frau“, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel.
„Sie ist erfolgreich, deshalb fährst du auf sie ab. Du willst genauso erfolgreich sein wie sie und du denkst, sie wird dir zeigen, wie es geht. Ich dagegen kriege nichts auf die Reihe. Ich bin nur ein Klotz an deinem Bein. Als Reisebegleitung gerade noch gut genug. “
„Hey, come on. Du weißt, dass das nicht wahr ist.“
„Ich bin so eine Idiotin. Wenn ich mich um meine Sachen kümmern würde, statt dir hinterherzufahren, würde ich auch was hinkriegen.“
„Was willst du?“, fragte ich. „Du bist noch jung. Das kommt alles noch.“
„Gar nix kommt. Alle großen Architekten hatten schon früh Erfolg.“
„Was ist mit Gehry?“
„Der ist ein Scharlatan. Scheiße, ich bin dabei, mein Leben dir zu opfern. Dir und deinem Erfolg.“
Ich fand das nicht. Aber es war kein guter Zeitpunkt, um zu diskutieren.
Eva war hysterisch.
„Come on“, sagte ich. „Warum gehst du nicht ins Haupthaus und badest dort? Schultz hat uns den Schlüssel gegeben, falls wir das Kino benutzen wollen.“
„Du hast den Schlüssel?“, fragte sie. Auf ihren Wangen standen, fast auf gleicher Höhe, zwei Tropfen. Aber das war Wasser.
IV
Eine ganze Stunde lang lief ich hinter Eva her durch das Haupthaus. Wir kamen aus dem Staunen nicht mehr raus. Beide fanden wir die Residence von innen noch viel besser als von außen. Eine äußerst seltene Verbindung von Geld und Geschmack nannte Eva das. Bei unserem Rundgang sagte sie Vieles, was ich so ähnlich dachte oder empfand, aber nicht zu sagen gewagt hätte, weil ich bei Architektur nur ein interessierter Laie war. Sie gab mir Sicherheit. Umso unverständlicher erschien mir ihr Ausbruch vom Morgen. In meinen Augen war meine Freundin eine selbständige Frau, die wusste, was sie wollte, und zu dieser Art von Selbstzweifeln keinen Anlass hatte. Während sie hie und da eine Schublade öffnete oder die Fingerspitzen über Stoffe, Hölzer und Bodenbeläge gleiten ließ und ihre Bewunderung für die Durchdachtheit des Ganzen ausdrückte, versuchte ich mir die richtigen Worte zurecht zu legen. Das Ergebnis war mager.
„Findest du wirklich, dass mein Erfolg deine Karriere behindert?“
„Du hast in zehn Jahren nichts zu meiner Selbstverwirklichung beige-tragen.“
Ich hatte das Gefühl, dass ich einen ähnlichen Satz schon mal irgendwo gelesen hätte.
„So lange sind wir doch noch gar nicht zusammen.“
„Dann eben sieben Jahre. Du wirst auf Händen getragen, schon als dein erstes Buch erschien, fing das an. Ich wandle in deinem Schatten. Ich bin dein Schatten.“
„Du profitierst von dem, was du meinen Erfolg nennst, doch genauso wie ich. Wir reisen um die halbe Welt, wir werden in dieses fantastische Haus eingeladen, einfach so. Nicht mal den Leihwagen müssen wir zahlen.“
Ich hatte etwas Freundliches sagen wollen, sie unterstützen, sie aus ihrer Krisenhöhle locken, statt sie noch weiter hineinzutreiben. Nun pries ich Dinge an, die mir selbst nicht viel gaben. Es ging nicht darum erfolgreich zu sein. Ich wollte, dass man meine Qualität erkannte – und nicht als nettes, junges, gut aussehendes Talent weitergereicht werden. Ich hatte sogar meinen schweizerischen Einschlag, den mir ein Sprechtrainer mühevoll abgewöhnt hatte, wieder hervorgeholt. Ich sprach extra langsam. Aber das machte mich nur authentischer, oder?
„Ich bin bloß ein Schatten“, wiederholte Eva. Und wirklich kam es mir so vor, als wäre ihre Haut gedunkelt. Das kam durch die Wolken, die vom Meer her ihre Decke zwischen uns und der Sonne ausbreiteten. Der Selbsthass, der sich in Evas Gesicht ausdrückte, rührte nicht daher. Ich begann mich zu fragen, ob sie irgendwie krank war. Ehrlich, inzwischen machte ich mir Sorgen. Diese komischen Sachen, dass sie sich nicht zu erinnern schien, seit wann wir zusammen waren (nämlich vier Jahre), oder felsenfest daran glaubte, dass ich mit Schultz‘ Frau gesprochen hätte. Noch mehr beunruhigte mich aber, dass sie von „Susan“ gesprochen hatte. Schultz’ Frau hieß nicht Susan, dieser Name kam aus meinem Traum. Wie konnte sie davon wissen? Ich sprach sie nicht darauf an, aus Angst, ihre Eifersucht würde zurückkehren. Vielleicht auch aus Angst vor irgendetwas anderem, das geschehen könnte. Das klarmachen könnte, dass Eva in Behandlung musste. Genau diese Idee hatte ich.
Im Basement gelangten wir zunächst in den Fitnessraum. Verschiedene Geräte zum Trainieren von Kraft und Ausdauer standen da auf einem knallroten Boden, davor ein riesiger Flatscreen. Wir dachten im ersten Moment, das wäre wahrhaftig das „Kino“. Selbstverständlich täuschten wir uns. Selbstverständlich gab es in Nachbarraum einen richtigen kleinen Kinosaal mit drei Sesselreihen vor einer Leinwand und Projektoren nicht nur für DVDs, sondern auch für 35 Millimeter. Wir suchten das ganze Basement ab, fanden jedoch keine Filme. Für wen auch? Es wohnte niemand hier. Wir mussten schließlich lachen. Evas Gesicht war wieder licht geworden.
„Wir haben den Kubrick noch nicht geschaut“, fiel mir ein.
„Oh, ja“, rief Eva aus.
Sie lief gleich los, um die Scheibe zu holen. Ich sah ihr nach und dachte, die Krise wäre vorbei. Wie sich am Bildschirm Fraktale bilden können, aber wenn es sich für ein paar Minuten nicht wiederholt, hält man die Störung für einmalig. So hätte ich das gern gehabt.
In Nullkommanichts war Eva zurück. Wir fanden heraus, wie man die Ge-räte einschaltete, doch der Spieler nahm die DVD nicht an. Falscher Länder-Code. Große Enttäuschung, gemeinsames Murren. Die Idee, sich visuell unterhalten zu lassen, hatte sich nun bei uns festgesetzt. Uns fiel ein, dass es noch diesen enormen Fernseher gab und wir liefen rüber in den Fitnessraum. Der Satelliten-Empfang funktionierte. Wir setzten uns auf zwei Trainingsgeräte und schauten irgendwelche Cartoons. Wir lachten um die Wette. Als wären wir noch Kinder, die wirklich glauben, dass man nach einer Weile wieder aufsteht und zu seiner Form zurückfindet, wenn eine Straßenwalze einen überfahren hat.
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