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VI
Ich blieb lange sitzen und schrieb. Als ich wieder hochsah, war es, weil ich die Buchstaben in dem Buch neben mir auf dem Tischchen nicht mehr entziffern konnte. Die Paneele an der Wand vor mir schienen nun nicht mehr beige, sondern beinah orange. Das Licht der Abendsonne durchdrang das gesamte Haus, die Sesselpolster schienen zu platzen, so satt war der Bezug von roter Farbe. Ich merkte, dass ich Hunger hatte und in dem Moment fiel mir erst auf, dass Eva noch nicht zurück war. Auf dem letzten Stück Weg hierher hatte ich mehrere Supermärkte gesehen – sie konnte längst mit dem Einkaufen fertig sein. Vielleicht saß sie im Ort in irgendeinem Café und las oder sie war allein zum Leuchtturm gefahren, um den Sonnenuntergang zu genießen. Der Aufgang der Sonne musste dort schöner anzusehen sein, weil er über dem Meer stattfand. Aber das war mein Standpunkt, ich war der Frühaufsteher.
Auf einmal spürte ich den Drang zum Strand zu gehen. Das Gästehaus stand wie gesagt auf Stahlstützen, die wie eine Reihe gespreizter Finger aus dem Boden ragten. Vom oberen Podest der ins Freie hinabführenden Wendeltreppe schaute man auf den Ozean, auf der letzten Stufe kehrte man ihm den Rücken. Das Gelb der Treppe war in den Beton gefärbt, aber in dem intensiven Abendlicht glaubte ich einen Moment lang, sie sei durchscheinend. Ich fragte mich, ob es sein konnte, dass ein Haus nur auf diese eine besondere Situation hin konzipiert war, auf eine halbe Stunde am Abend, in der das Licht seitlich einfiel, und auch das womöglich nur an wenigen Tagen des Jahres. Der Gedanke drängte sich mir auf. Gleichzeitig lag die Zone vor dem Mäuerchen, das sich unter dem lang gestreckten Gebäude hinzog, bereits in nächtlich tiefem Schatten. Jacques fiel mir ein, der hätte ganz sicher so gebaut, wenn er die Möglichkeit bekommen hätte und wenn er Architekt gewesen wäre, aber er schrieb wie ich Geschichten, er schrieb auch Gedichte und er machte keine Kompromisse, er dachte nicht an Leser. Alles kreiste darum, die perfekte Form zu finden, und wenn es ihm gelang, in manchen Texten, fand ich es bemerkenswert. Oft kritisierte ich ihn jedoch, weil ich seine Haltung insgesamt ängstlich fand. Er schrieb so, dass niemand ihn angreifen konnte, immer zog er sich auf sich selbst zurück, er spielte in einem geschlossenen System. Jacques war nicht neidisch auf meinen Erfolg, im Gegenteil, manchmal war ich neidisch auf ihn und dachte, in hundert Jahren wird er berühmt sein, ich hingegen eine Fußnote der Literaturgeschichte. – Literaturgeschichte, Fuck, wir meinten es verdammt ernst.
Ich lief um das Gästehaus herum. Ich wollte auf die Seite kommen, die komplett mit wie Pflugscharen ausgestellten Holzelementen verkleidet war, sodass sie von außen praktisch keinen Einblick gewährte. Aus einem bestimmten Blickwinkel wirkte diese Seite des Hauses wie eine Schuppenwand. Die Mauer, an der ich entlanglief, war aus schmal geschnittenen Natursteinen errichtet, die einen warmen Erdton besaßen. Wie sie fahler wurden, so verging der Tag. Bald würde die Sonne ganz verschwinden und dem Zwielicht das Feld überlassen. Strukturell griff diese Mauer einige Innenwände des Haupthauses auf, die ebenfalls aus Naturstein gemacht oder damit verkleidet waren, die einzelnen Steine saßen nicht genau aufeinander, sondern sprangen vor und zurück, sodass eine lebhafte Struktur entstand. Schultz hatte an alles gedacht, falls er das Haus überhaupt selbst entworfen hatte. Genau diese Durchdachtheit fand ich inzwischen unerträglich, dieses ständige Aussagen: Der Außenraum und der Innenraum sind miteinander verbunden, es herrscht ein Bewusstsein davon, dass das Haus gegen die Natur steht, gleichzeitig ist es von ihr genommen und wird es ein Teil von ihr sein. Besser konnte ich nicht ausdrücken, was ich empfand. Andere Sachen überraschten mich derart, dass ich ihren Witz nicht leugnen konnte. So fand ich unter dem aufgeständerten Gästehaus eine Wasserfläche, halb schwarz, halb blau schimmernd, über die hinweg ich auf das noch im Abendlicht glitzernde Meer schauen konnte. Dort hinten die ewigen Schaumkronen, das Rauschen, hier vorn Stille und totale Bewegungslosigkeit. Das zog mich an. Als hätte jemand, Schultz, eine Antwort gefunden auf die grenzenlose Ignoranz der Ozeane. Ich beschloss, mich noch ein Weilchen hinzusetzen. Bestimmt würde die Mauer von der Sonne warm sein, ich würde das Licht spüren, das ich nicht mehr sehen konnte. Zuerst musste der Pool vor mir schwarz werden, später das Meer. Da sah ich auf der anderen Seite des Hauses einen Mann auf dem Rasen. Ich erschrak, denn ich hatte mit niemandem außer Eva gerechnet, und duckte mich schnell. Normalerweise hätte ich ihn angerufen, aber in jenem Moment schien es mir undenkbar, mein Englisch so schweizerisch schlecht, dass nicht das kleinste Gespräch möglich war. Wenn ich an ihn heran wollte, blieben mir nur zwei Möglichkeiten – mich anzuschleichen wie ein Indianer, um ihn zu stellen, oder schnell zu sein. Die blöde Mauer und der künstlich angelegte Tümpel hinderten mich, auf dem kürzesten Weg zu ihm rüber zu rennen. Um unbemerkt zu bleiben, boten sie mir nicht ausreichend Schutz. Eine Art Lähmung überfiel mich. Das war schlimmer als wegzulaufen. Plötzlich war die Gestalt verschwunden. Ich wollte an eine Einbildung glauben.
Der Gang der Dinge beziehungsweise das, was ich von da an noch zu erzählen habe, erscheint mir selbst merkwürdig. Sie werden vielleicht denken, dass ich einfach eine Halluzination hatte oder dass ich eingeschlafen war und einen dieser lebhaften Träume träumte, die einen manchmal überkommen. Ehrlich gesagt, würde ich das am liebsten auch glauben. Leider bin ich kein Psycho, Sie wahrscheinlich auch nicht, deshalb schlage ich vor, dass Sie sich mal fragen, ob Sie es sich selbst abnehmen würden, dass Sie einfach so, aus heiterem Himmel eine Halluzination hatten oder einen Traum, den Sie glatt für das Leben hielten. Für das hier fehlt mir jede rationale Erklärung.
Anyway, es war so, dass der Mann plötzlich ganz dicht vor mir auftauchte. Ich fasste ihn, als wäre das eine ausgemachte Sache, ein verabredeter Kampf oder so was, um den Leib und versuchte ihn von den Beinen zu bringen. Er hielt stand und wollte mich seinerseits aus dem Gleichgewicht hebeln. Es gelang ihm nicht. So ging es zwischen uns hin und her, zentimeterweise, möchte ich sagen. Ich zwang ihn auf die Knie, ging dabei aber selbst in die Knie, wir richteten uns aneinander wieder auf. Jede Faser meiner Muskeln war gespannt, bei ihm konnte es nicht anders sein. So wurden wir müde. Seine Rechte ließ von mir ab, ich witterte meine Chance, ihn endlich zu Boden zu werfen. Da schlug er mir mit der Faust in die Seite. Ich schrie auf, ich hatte noch nie solche Schmerzen verspürt. Ich wäre zu keiner Handlung mehr fähig gewesen. Aber nun sagte er zu mir: „Du hast mit Gott gekämpft und dich nicht bezwingen lassen.“ Das war für mich das Verrückteste an der Sache.
Unmittelbar darauf war die Gestalt verschwunden. Ich glaubte nicht, dass ich noch mal aufstehen könnte.
Da stand Eva vor mir.
VII