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VIII
Mein Blut lief über den Findling wie über einen Opferstein. Dieses Bild entstand erst später in meinem Kopf. An jenem Abend in der Dunkelheit kriegte ich nicht viel davon mit und es kümmerte mich auch nicht. Ich meine, dass das Blut aus mir floss, kümmerte mich schon, aber nicht, wo es landete. Es war viel Blut, viel mehr, als ich jemals gesehen hatte. Die Schmerzen waren erstmal nicht so groß. Ich bemerkte aber, wie ich rasend schnell schwächer wurde. So ein kleines Loch war in mir drin, da zischte meine Kraft raus wie die Luft aus einem angepiksten Ballon. Nicht eine Sekunde lang hatte ich die Idee mich zu wehren. Alles war anders, als ich es mir bis dahin vorgestellt hätte. Meine Augen suchten Eva, fanden sie jedoch nicht. Ich hatte den Impuls aufzustehen und wegzulaufen, gleichzeitig fühlte ich mich müde und wollte einfach umsinken, daliegen, ausbluten. Du musst jetzt aufstehen, du musst hier weg, du musst etwas tun, sagte ich mir. Vollkommen sinnlos – aber in jenem Moment war mir das nicht klar. Ich hatte so eine Vorstellung mich zu etwas zwingen zu müssen, wie angeschossene Leute im Western, die noch tagelang reiten oder mit einem abgebundenen Bein und ohne Wasser eine Wüste durchqueren. Dass Eva mir auch noch in den Rücken stach, kriegte ich gar nicht richtig mit, das heißt ich registrierte etwas Schlimmes, konnte aber nicht sagen, was es war. Ich schaffte es aufzustehen und die paar Meter zum Strand zu hinken. Warum zum Strand? Ich dachte wohl, dass ich dort eine Telefonzelle finden würde.
Ich humpelte direkt aufs Meer zu, ohne einen Gedanken daran, ob Eva mich etwa verfolgte. Ich wollte schnell aus dem trockenen Sand rauskommen, weil mir das Gehen solche Mühe machte, besonders mit dem linken Bein. Wenn du erst auf dem nassen Sand bist, den die Brandung zusammengebacken hat, sagte ich mir, wird es besser gehen. Genau bis dahin schaffte ich es. Ich merkte, dass ich nicht weiter konnte, und setzte mich hin. Aus dem Sitzen glitt ich langsam ganz zu Boden. Shit, ich wurde nass. Das Meerwasser drang aus dem Sand in meine Kleider. Es wirkte nicht besonders kühl, doch bald begann ich zu frieren. Ich wandte meinen Kopf landwärts. Von der Residence war nichts zu sehen. Das Licht, das unentwegt aus ihrem Innern leuchtete, war offenbar nicht stark genug, um die Büsche zu durchdringen, und meine Position darüber hinaus ungünstig. Also drehte ich den Kopf in die andere Richtung.
Soll ich wirklich „also“ schreiben?
Ich wandte meinen Blick dem Meer zu und dachte wieder das Gleiche: Die Wellen sahen künstlich aus. Sie kamen in schnurgeraden Reihen auf den Strand. Schultz-Wellen, dachte ich, Lego-Wellen. Ich fand, dass sie gut hierher passten. War nicht auch die Linie zwischen Sand und Wasser zu einhundert Prozent gerade? Und die zwischen Leben und Tod ... So sollte auch mein Sarg sein. Am liebsten wollte ich einen aus Wörtern bekommen. Gerade, einfache Wörter. Holz. Hobel. Nagel. Erde. Feuer ... Diese eine Sache wollte ich noch schreiben können. Die Wörter für meinen Sarg. Es hätte mir gereicht sie zu diktieren.
Ich hatte niemandem kommen hören und erschrak, als Eva sich über mich beugte, als sähe ich ein fremdes Gesicht. Es war nur eine kurze Welle von Stress. Gleich darauf zog es mich zu ihr. Ich wollte in ihren Armen liegen, den Kopf auf ihrem Schoß ruhen lassen. Vielleicht konnte ich ihr ansehen, dass sie mir nichts weiter tun würde. Vielleicht konnte ich auch gar nichts sehen. Ich spürte die Unendlichkeit meiner Schwäche. Genau genommen war der Tod nur eine chemische Reaktion. Ein Wechsel von Aggregatzuständen. Nur weil wir das nicht ertrugen, machten wir so ein Aufheben davon. Was wären wir gewesen ohne den Schmerz des Verlusts, nichts anderes als das Gras oder das Laub an den Bäumen. Oder der Sand am Strand. Ich konnte ihn fühlen in meiner Hand. Ab und zu wehte Evas Stimme in meine müden Gedanken. Sie sprach schnell – als müssten ihre Worte über viel zu dünnes Eis laufen. Mehrmals rief sie meinen Namen, was sie dazwischen sprach, kriegte ich gar nicht mit, aber ich dachte mir, dass sie so was sagte wie: Es tut mir unendlich leid, Peter, was habe ich getan, Peter, bleib bei mir, Peter, und so fort. Auch ich wollte mit ihr sprechen. Nicht fragen, warum sie das gemacht hatte, oder so was. Ich wollte ihr sagen, wie schnurgerade diese Wellen waren, ich dachte, dass sie hier, so nah am Meer, genau dasselbe sehen müsste wie ich. Ich wollte ihr die Wörter sagen, in denen ich ruhen würde. Leider brachte ich keinen Laut heraus.
Als sie mich endlich in den Arm nahm, fand ihre Hand das Blut, das anscheinend nicht nur aus meinem Bauch, sondern auch aus dem Rücken floss. Ich erinnere mich genau, wie ihr Gesicht bleich wurde und ihre Miene einen schmerzlichen, verzweifelten Ausdruck annahm.
„Rühr dich nicht vom Fleck“, schrie sie, „Ich hole Verbandszeug. Bestimmt gibt es in Schultz‘ Haus so einen verdammten emergency case.“
Ich erinnere mich sehr genau an diese Worte, womöglich weil es so falsches Englisch war. Ich dachte, dass sie in Schultz‘ riesigem Haus nie etwas finden würde, nicht heute und nicht in diesem Jahr. Ich wollte aber, dass sie schnell etwas fand.
„Im Auto“, brachte ich heraus.
Eva nickte. Ja, ja, ich renne zum Auto, jedes beschissene Auto hat einen Verbandskasten, den geh ich jetzt holen. Ich bin in einer Minute wieder da, lauf nicht weg, hörst du?
Jedenfalls glaubte ich, sie etwas in der Art sagen zu hören.
IX
Als ich so allein im Sand lag, bekam ich auf einmal Angst um mein Leben. Ich spürte, dass ich immer mehr Blut verlor. Am meisten machte mir aber die Vorstellung Angst, Eva könnte zurückkommen, um mir den Rest zu geben. Ich war nichts weiter als ein verwundetes Wild, das mit letzter Kraft versucht, sich in ein Versteck zu schleppen. In diesem Zustand muss ich noch etliche Meter über den Strand gerobbt sein; meine Kleider sogen sich gänzlich voll und ich spürte das Meerwasser in meiner Rückenwunde brennen, ohne dass es besonders wehgetan hätte. Der Schmerz war eher ein Erfahrungswert. Meine Hand stieß plötzlich gegen etwas Weiches. Mein Kopf lag im Sand, ich war zu schwach, um ihn zu heben. Es stank bestialisch.
Lange bevor ich es geschafft hatte, mich so zu drehen, dass ich etwas sehen konnte, wusste ich schon, dass es ein Kadaver sein musste, der da lag. Er war nackt, konnte aber einmal befellt gewesen sein. Er war vielleicht halb so groß wie ich. Ich sah in der Dunkelheit nicht viel davon, eine Vorderpfote oder ein Fuß streckte sich mir entgegen, an dem ein Band wie eine Fessel hing. Das Gesicht des Tiers jagte mir einen riesigen Schreck ein. Es sah aus, als hätte es vorn statt der Zahnreihe eines Säugetiers eine riesige klauenartige Zange. Dahinter entdeckte ich eine Reihe gewöhnlicher, aber superscharfer Zähne. Wow, dieses tote Monster hatte offenbar wochenlang im Wasser gelegen und war nun an den Strand gespült worden. Auf mich wirkte es, als wäre diese Kreatur direkt aus der Hölle gekommen. Ich rechnete jeden Moment damit, dass sie ihr Maul öffnen und mir den Kopf abkneifen würde wie der Gärtner mit seiner Schere mühelos die Rose vom Strauch zwickt.
„Oh, Mann, was ist das für ein Vieh? Sieht aus wie ’ne Schildkröte ohne Panzer.“
Ich konnte nicht sehen, wer da sprach.
„Eine Schildkröte ohne Panzer? Ihr Numbskulls!“ Das musste Schultz sein. „Eine Schildkröte ist so mit ihrem Panzer verwachsen, dass nicht viel übrig bleibt, wenn sie ihn verliert. Außerdem haben Schildkröten keine Zähne. Ich wette, es ist ein Pitbull.“
„Aber was ist mit dem Armband?“
Auch diese Stimme kannte ich nicht, so wenig wie die folgende.
„Ich hab so ein Vieh schon mal gesehen. Es ist in mein Haus eingebrochen, hat all meine Armbänder geklaut und ist dann durch die Hintertür verschwunden.“
„Elizabeth!“
„Was denn?“
Ich begriff. Die zuletzt gesprochen hatte, musste Schultz‘ Frau sein. Es ge-lang mir den Kopf ein wenig zu heben und diese Leute anzuschauen, die um den Kadaver herumhockten. Ich erkannte Susanna, Eva, den Mann, mit dem ich gekämpft hatte. Elizabeth sah ganz anders aus als ich sie mir vorgestellt hatte, jugendlich, schlaksig. Sie hatte ein schmales Gesicht und starke schwarze Augenbrauen. Glattes graues Haar.
„Es gibt gar keinen Kadaver. Das ist eine Fata Morgana.“
„Echt oder nicht, ich möchte dem Vieh nicht im Dunkeln begegnen.“
„Das bist du doch gerade.“
„Das Ding ist für einen Film gemacht worden. Eine Puppe. Ein Hoax.“
„Also ich versteh ein bisschen was von Anatomie und ich kann euch sagen, dass der Schädel nicht die Form eines Hundeschädels hat. Wenn ich mir das Aas so ansehe, würde ich am ehesten auf eine Hauskatze tippen.“
„‘ne Riesenhauskatze, hehe ...“
„Es hat sicher eine Zeitlang im Wasser gelegen und der größte Teil seiner Haut und seines Fells sind verloren gegangen. Der Leib ist aufgebläht und irgendetwas hat seine Nase und Lippen gefressen. Die obere Zahnreihe ist noch von Haut oder Muskeln bedeckt, die untere liegt frei.“
„Ist es echt oder ist es nicht echt? Das will ich wissen. Alles andere, ob es eine Schildkröte ist oder ein Hund oder was, interessiert mich nicht. Redet keinen Bullshit. Ich möchte das Wesentliche ... das Wesentliche ...“
Elizabeth wirkte müde, als sie das sagte. Ich konnte mich nicht von ihrem Anblick losreißen. Das ist eine richtig berühmte Schriftstellerin, dachte ich, die für ihre Bücher ihren Namen geändert hat. Der Erfolg hat sie kein bisschen müde gemacht, er hat sie im Gegenteil verjüngt oder, sorry, jung gehalten.
„Es ist eine gehäutete Bulldogge“, sagte Schultz. „Eine Schildkröte, ts, eine Katze ...“
„Ich glaube, dass es ein Wachhund ist“, sagte Eva. „So eine Spezialzüchtung wie der Pitbull – für die wirklich fiesen Sachen. Die Frage ist, wem das Vieh gehört hat, wer es umgebracht hat und warum sie es hier hingeworfen haben. Hat es jemanden getötet, wird es weiter gezüchtet? Insofern das eine Angelegenheit der Polizei ist, muss es sich um eine Fälschung handeln. Diese Frauen wären nicht so unverantwortlich, keine Untersuchung des Tiers zuzulassen. Sonst müsste man sie vor Gericht bringen, weil sie die öffentliche Sicherheit gefährden.“
Entdecken Sie da irgendeine Logik? Mir war das peinlich, ich wollte ihr zurufen, dass sie den Mund halten und mir endlich den Verband anlegen sollte. Den Leuten hier am Strand musste sie ebenfalls verrückt vorkommen, wenn sie so redete, und wahrscheinlich war sie das auch. Anstelle von Wörtern bekam ich bloß etwas Magensaft in den Mund. Ich dämmerte weg, ich begegnete dem felllosen Tier in der Hölle, da war es sehr lebendig, und ich wusste sofort, dass es mich zerreißen würde.
„Es ist ’ne Fälschung“, hörte ich einen der Männer sagen. Seine Stimme weit weg, in der irdischen Welt. „Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass wir irgendwann auf diesem Planeten noch etwas Neues entdecken, aber glaubt ihr nicht, wir hätten etwas dermaßen Großes längst schon mal gesehen? Es kann doch nicht das erste Tier dieser Art sein, das an einen Strand gespült wurde.“
Als letzte äußerte Elizabeth sich. Sie schien extra laut zu schreien, damit ich sie noch verstehen konnte. Sie wusste, wo ich gelandet war.
„Es sieht so aus, dass seine Vorderläufe gefesselt sind. Daraus folgt, dass ihm schon andere Menschen begegnet sind. Ich schätze, dass sie es nicht besonders gut behandelt haben, weil es voller Beulen ist. Vielleicht haben sie es ausgesetzt und vorher halb gesteinigt. Die Beulen hat es bekommen, als es noch lebte. Es sieht so echt aus, dass ich nicht an eine Fälschung glauben kann. Man sieht seinem Gesicht noch an, welch qualvollen Tod es erlitten haben muss. Was auch immer ihm geschehen ist, es war grauenhaft.“
Hör dieser Frau zu, Eva, rief ich aus der Unterwelt. Sie spricht sehr gut, sehr logisch und gleichzeitig einfühlsam. Sie ist die Einzige von euch, die etwas taugt. Selbst ein Monster wie dieses, das mich gleich in Stücke reißen wird, kann das spüren.
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