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Port Stanley ist gefallen 21 (komplett)



Die neue Freundin lag förmlich in der Luft. Wie ein Gewitterhim­mel im Hochsommer wartete ich innerlich auf den Blitz. Der Blitz hieß Engelchen.

"Weißt du, daß Conny Bilder von Engelchen hat?" fragte mich eines Tages Svenja. Da fiel es mir wieder ein: natürlich, Engelchen! Wie konnte ich es vergessen... früher hatte ich keine Zeit, sie kennenzulrnen - ich war ja verheiratet - aber jetzt. Die Lösung war ge­funden, die neue Freundin da. Unverzüglich wollte ich die Sache in Ordnung bringen.

"Wie heißt Engelchen wirklich?"

Svenja wußte es nicht. Aber Conny. Sie arbeitete in einem Friseur­geschäft. Leider war ich mit meinem Schnitt sehr zufrieden, machte trotzdem gleich einen Termin.

"Ich brauche unbedingt heute noch einen Termin, bei... äh, Ihrer engelhaften Mitarbeiterin, ha ha, wie heißt sie doch?"

"Petra" sagte der Mann vom Friseurladen.

"Aus bestimmten Gründen ist es notwendig, daß Petra mich schneidet, geht das? Heute noch?"

"Ja, ja, komm‘ man vorbei, alles klar, komm‘ einfach vorbei."

Ich warf mich in den alten Wehrmachtskäfer und trat das Gas durch. Vorher fuhr ich noch bei der Motorradhandlung Louis vorbei und un­terschrieb endlich den Kaufvertrag für Svenjas kleines Mokick. Ich fuhr zum Geldgeber, der nicht da war (wohl aber Geld). Ich fuhr zu Conny, wo ich Svenja, Götz und Wolf vorfand, im Spiegelsaal der prunkvollen Luxuswohnung des Baader-Meinhof-Anwaltes Groenewold, englische Marmelade kauend, Haschisch rauchend. Ich ließ mir einen Zug abgeben.

Das Zeug war so gut, daß ich selbstsicher und fröhlich wurde: welch ein Glück - nun aber schnell zu Engelchen!

Ich hätte nicht besser eingestimmt worden sein können. Diese wun­dervolle Baader-Meinhof-Villa, die von mir gerade zum Zentrum des Jahres 1982 erklärten "Alles Wird Gut"-Besitzer Götz/Wolf, der aufmerksame Conny, schönes, warmes Maiwetter, offener Wagen: und jetzt Engelchen. Sie war schlicht gekleidet, blaue Jeans, weißes T-Shirt. Ihre Locken waren extrem hell und milchfarben, die Augen zu meiner Überraschung preußisch-blau. Früher hatte ich sie immer nur bekifft gesehen, da waren die Augen klein und rot.

Der weißlackierte New-Wave-Laden war winzig. David Bowies "Scary Monsters" von 1980 schien nicht ganz gut zu passen - der leutselige Chef hatte sie aufgelegt.

Thorsten Ulrich, ein ehemaliger Bekannter, mit dem ich einmal, glaube ich, in einer Kommune gewohnt hatte, war vor mir dran. Er erbot sich, mich vorzulassen.

"Nein, du bist dran," bestimmte Engelchen. Die tiefe, schnörkellose Kim-Stimme, das geradlinige Ordnungsdenken, der Gerechtig­keitssinn - alles war mir vertraut.

Ich konnte sie beim Schneider, beobachten. Mich wunderte, daß sie die filzigen langen Haare von diesem Thorsten anfassen mochte. Als es ans Zahlen ging, sagte sie:

"Gib nur, was du gerade entbehren kannst, hast ja nicht soviel Geld Thorsten."

Beim Schneiden selbst wurde nicht viel geredet. Ich dachte an den Satz von Zack, daß sie stets unterhalten werden wolle. War es so? Dann mußte ich aus meiner Deckung herauskommen, was ich auch tat. Ich stand auf und stellte aufgekratzt Fragen.

"Hat der dir das vorher gesagt, wie er die Haare haben möchte? Hat er dir ein Foto gezeigt?"

"Nein, ich weiß das, ich kenne ihn seit zehn Jahren."

Ich setzte mich wieder. Ein anderes Mädchen wollte mir die Haare waschen, ich lehnte ab.

"Aus bestimmten Gründen muß ich mir von Petra die Haare waschen lassen, ich habe da strenge Anweisung."

Verdattert stand das andere Mädchen im Raum herum, verstand die Welt nicht mehr.

"Kann ich wohl eine BILD Zeitung haben?" fragte ich Engelchen.

Als sie verneinte, holte ich eine aus dem Auto. Drei Artikel waren von mir drin, ich wollte das Ding aufgeschlagen im Salon liegenlassen, Nun war ich dran und wurde von der geschmeidigen, tatsächlich engelhaft-leichtfüßigen Petra - ihre Bewegungen waren lautlos und fließend - zum Haarwasch-Sessel geführt.

Ich mußte den Kopf ganz nach hinten unten legen, fast unnatürlich zum Boden biegen, so daß ich die wehrloseste Haltung einnahm und mich nicht rühren konnte. Ein geringfügiges Aufbäumen, und mir wä­re der Halswirbel gebrochen. Nicht von hinten, wie sonst üblich, sondern von vorn-seitlich beugte sich Engelchen über mich. Sie mas­sierte meine Haare unendlich sanft, aber auch ein wenig, wie ich fand, unbeholfen. Conny hatte mir von Engelchens phantastischer Kopfmassage vorgeschwärmt - aber ich fand es eher menschlich und rührend. So ungefähr würde es sich anfühlen, dachte ich, wenn ich plötzlich umgekehrt Engelchen den Kopf massieren müßte. Im übrigen konnte ich nicht auf ihre Bewegungen achten, weil mir tausend Ge­danken durch den Kopf schossen. Wieder aber fand ich es seltsam, daß sie das überhaupt konnte: sich fremden Menschen so zu nähern.

"Ist es dir nicht eklig, Leuten die Haare anzufassen, die monate­lang nicht beim Friseur waren?"

"Nein, ich kenne ihn doch. Er ist ein guter Freund von mir."

Dann dachte sie, ich meinte mich selber und tröstete mich, wobei sie mich plötzlich siezte, sich schnell auf "du" verbesserte. Es wurde seltsam, erste Divergenzen wurden erahnbar. Das Artikulieren von Ekel gegen lebende Mitmenschen war nicht ihre Sache, so wenig wie Distanz und Zynismus. Gewiß, Distanz im Sinne von Respekt vor der Würde des Anderen, Distanz zwischen der eigenen Persönlichkeit und der Außenwelt an sich, das schon. Das mehr als bei jedem ande­ren. Aber Menschenverachtung, Wiederholungsekel, intellektueller Spott - niemals. Sie war anständig, sie liebte die Menschen.

Nun rückte ich mit der Sprache heraus.

"Ich will ehrlich sein: ich mache einen Artikel über dich."

Ich drehte mich um und erschrak über ihr völlig verändertes Gesicht Es war dunkelrot, selbst die preußisch-blauen Augen waren wieder rot und klein, dünne Schlitze plötzlich. Mit cooler Stimme fragte sie, wie ich denn dazu komme. Und für welche Zeitung.

"Bild Zeitung."

Ich glaube, sie lehnte ab. Ich erinnere mich nicht mehr an den Wortlaut, aber ihre Ablehnung war körperlich spürbar. Ich zitterte, so mitten im Strahlungsfeld ihrer instinktiver Abwehr.


Foto: Lottmann Images

"Alles aus, alles falsch gemacht" dachte ich und ließ den Kopf hän­gen. Fünf Minuten grübelte ich uferlos vor mich hin.

Engelchen schnitt natürlich weiter, vielleicht sah mich im Spiegel und bekam Mitleid.

"Du magst sie nicht, die Bild Zeitung?" fragte ich schwach.

"Wie?"

"Du magst sie nicht, die BILD-Zeitung?"

"Wen?" Ich blieb wohl zu matt.

"Die 'BILD'-Zeitung."

Wir waren an einem programmatischen Punkt. Unabhängig davon, daß ich zufällig gerade bei der Bild Zeitung beschäftigt war - was ich ja zu 99 Prozent meines abgelaufenen Lebens nicht war - gehörte die Bild Zeitung, wie der SPIEGEL und die Tagesschau, zu den Grundstüt­zen meines Lebens und Denkens, zu meinen liebsten Dingen von je her. Kleine Mini-Ausgaben der Bild Zeitung schrieb ich schon seit dem fünften Lebensjahr, noch vor der Einschulung. Alles war vergänglich, Adenauer, Kennedy, Uwe Seeler, die Beatles, Haircut One Hundred, nur die Bild Zeitung blieb, der gute alte Herr Springer, aber auch Augstein und Tagesschau-Köpke. Ja, diese Leute machten unser Land, nicht die lächerlichen Politiker, die nur gewählt wurden, von der liebgewonnenen Bonner Familie einmal abgesehen: Schmidt, Brandt, Wehner, Genscher. Also - nun galt es. Wie stellte sich Engelchen zu dem Ganzen?

Ein Wunder geschah; Engelchen gab nach. Noch immer unerklärlich rot, steckte sie zurück, kam mir entgegen, zeigte sich verhandlungsbe­reit.

"Nein, ich mag sie nicht." Sagte sie zuerst.

"Warum?"

"Du, ich glaube, die denken sich die Geschichten oft nur aus."

"Natürlich!" schmetterte ich. Und schwieg gespannt.

Tatsächlich. - es gab einen kleinen Ruck in ihrem Kopf. Eine Sekunde lang schnitt sie langsamer. Da alles mit allem zusammenhing, wußte sie, daß sie es mit einem grundsätzlich anderen Lebensprinzip zu tun hatte, mit all seinen Milliarden Folgeerscheinungen. Sie konn­te sich auch irren, Mißverständnisse gab es immer. In dem Moment klingelte das Friseurtelefon, leider. Der leutselige Chef rief: "Petra, für dich." Sie ging ran.

"Gut, dann hol' mich zehn nach halb Acht ab" verstand ich noch. Al­les andere verschluckte der Lärm des Haarföns, den sie absichtlich angelassen hatte.

Wir schwiegen ein bißchen. Ich sah mich im Spiegel und verlor viel an Kraft. Schrecklich, dieser Büllerkopf, so kahl plötzlich und ro­sig. Bloß gut, daß sie es zu verantworten hatte und nicht ich.

"Bild Zeitung ist doch gut. Punk-Lay Out, Blut, Leichen, Anarchie. Nur die Langweiler haben etwas gegen dieses Revoluzzer-Blatt."

"Aber meine Kunden..." überlegte sie.

"Die 'Alles-Wird-Gut'-Leute? Die lieben die Bild-Zeitung! Ein gran­dioses Kunstprodukt, die 'Neuen Wilden' hoch zwei, der adäquate Ausdruck der 80er Jahre..."

Ich sprach mehr für mich selber. Ich rechnete nicht damit, daß sie mir zuhörte. Niemand hört mir zu, wenn ich Dinge dieser Art sage.

Es liegt mir auch nicht, ideologisch zu werden, es schmeckt so un­angenehm nach 'Meinung', nach dem, was mir das größte Greuel ist.

Ich nuschelte also auf den Boden, verkrampfte dabei, schwieg.

Dann sagte ich wieder:

"Wir müssen es ja nicht heute entscheiden. Wir können erst einmal ein gutes Honorar aushandeln und dann weitersehen."

Sie informierte den leutseligen Chef; ihre Stimme klang richtig gutgelaunt. Ich rutschte etwas höher im Friseursessel.

Aber dieser Kerl verdarb fast alles.

"Was, einen Artikel über dich in der Bild Zeitung? Über den Laden, hier? Immer doch, immer doch! Geiles Ding! Mit saftigen Fotos, ho, ho, ho! Petra nackt vor dem Haarwaschbecken!!" Er brüllte vor Freu­de. Ich zuckte zusammen. Oh Gott!

"Nein, nein, nicht doch, ganz anders... es geht um die Frisuren, um Petras Urheberschaft bei der ganzen 'Alles-Wird-Gut'-Bewegung... immerhin hat sie sich neunzig Prozent der auffälligen Schlachtereiköpfe ausgedacht, außerdem kann man das gut fotografieren..."

"Gibt geil Kohle was?" wieherte der leutselige Chef. Auch Petra wollte wissen, ob sie Gold dafür bekam, wieviel genau.

"Bei Fotos gibt es natürlich wirklich viel Geld, 800 Mark, ohne Fo­tos kaum was, einen unerheblichen Betrug."

"Werbung ist immer gut!" rief der Mann.

Nach einiger Zeit fing ich ein weiteres Mai mit dem Thema an, nach­dem Engelchen wieder stumm hinter mir gestanden und geschnitten hatte.

"Ich weiß was! Ich schreibe erst den Artikel, und du sagst dann, ob er dir gefällt!" Ich fand die Idee wunderbar.

"Wie kommt es, daß du dich so dafür einsetzt?", fragte sie, "Normalerweise fragt man, und wenn dann kommt 'kein Interesse', sagt man, 'okay, ist in Ordnung' und die Sache ist erledigt.”

"Das würde voraussetzen, daß Ich selbst kein Interesse hätte - " Engelchen lachte. Ich fuhr fort:

" - aber das habe ich. Ich habe den Artikel schon im Kopf und er fühlt sich ganz köstlich an."

Plötzlich rannte sie in einen zweiten Kaum, holte Zettel und Blei­stift, schrieb mir ihre Telefonnummer auf - und ihre Adresse. Ich freute mich.

Dann kam das Kim-hafte wieder in ihr hoch, das Ordentliche, Geregelte. Erst am nächsten Freitag konnte sie mich sehen, weil sie die nächsten Tage gewohnheitsmäßig fest verplant hatte. Daran gab es dann auch nichts zu rütteln.

"Wo hälst du dich denn heute nacht um ein Uhr auf?" fragte ich und überschritt damit die mir zustehende Grenze, blöderweise. Zum Glück sah sie es mir noch nach.

"Ich weiß nicht, um eins, im Cha-Cha, keine Ahnung..." Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Gut, gut!" ich flog zum Ausgang, vergaß das Zahlen.

Mehrere Stimmen holten mich zurück. Ein seltsames Bild: langsam drehte ich mich nach den Stimmen um und sah mich von dem ganzen Fri­seurladen umstellt, blickte mit einem Mal auf den ganzen mittel­ständischen Kosmos dieses einen Handwerksbetriebes. Im Fischaugen­winkel, sozusagen mit 25-mm-Objektiv, nahm ich wahr: den leutseli­gen Chef, die Waschbecken, die Lesezirkel-Illustratoren, Engelchen, das andere, verdatterte Lehrmädchen, vier Kunden, die Kasse, der Kalender mit den eingetragenen Geburtstagen der Mitarbeiter, ein Gehilfe mit Besen, abgeschnittene Locken auf dem weiß lackierten Fußboden, blaue New-Wave-Neonröhren neben den mannshohen Spiegeln.

Wo war ich da bloß wieder eingedrungen, dachte ich.

Alle guckten mich an, mich, den säumigen Zahler. Engelchen kam la­chend auf mich zu. Ich legte die Stirn in Falten, spielte den zer­streuten Professor, wunderte mich noch, daß mir die Rolle so leicht fiel, aber es war ja gar keine Rolle, ich war ja so zerstreut.

"Nun, junges Mädchen, nicht wahr, es ist... es liegt daran, daß ich in Gedanken schon in der Redaktion... es macht hoffentlich nichts, wieviel soll es denn sein?"

"Fünfundzwanzig Mark." Es kam ihr viel vor, was mich erschütterte, denn der blöde Signore Suci hatte mir alle drei Wochen vierzig Mark abgenommen - für weniger. Ungewohnt war auch, daß ich das Geld di­rekt in die 37 Grad warme Hand von Engelchen legen mußte, nicht auf den Tisch einer anonymen Kassiererin. So gelangte das Geld von mei­ner Hand zu ihrer Hand, und das ging natürlich nicht so einfach. Beide starrten wir ratlos auf einen fetten, fremdartigen Fünfzig-Mark-Schein, der nun weder ihr, noch mir gehörte. Wechseln konnte Engelchen nicht.

Sie lief nach draußen in ein anderes Geschäft.

Als sie nach einigen Minuten nicht zurückkam, dachte ich geschwind daran, daß sie mich vielleicht draußen treffen wollte. Sofort ging ich aus dem Laden, hatte gerade noch Zeit, den überschwenglichen Gruß des leutseligen Chefs zu erwidern.

Tatsächlich - draußen war Engelchen, wahrscheinlich zufällig. Sie gab mir meinen Anteil, wir verabschiedeten uns...

"Also - ich rufe dich an. Ich habe ja die Nummer. Hier steht sie drauf, ja."

"Ja, bitte, genau. Du rufst mich an. Da... da steht alles."

"Gut... gut."

"Morgen ist Vatertag. Da bin ich bei meinen Eltern, das muß sein, das mache ich gerne."

"Ja."

Ich blickte sie die ganze Zeit an und überlegte, ob ich ihr nun die letzten zwanzig Bildartikel in die Hand drücken sollte oder nicht; irgendetwas von mir sollte sie doch haben, sonst würde sie schon zehn Minuten später meinen Namen vergessen haben. Da ich mich nicht entschließen konnte, dauerten die Abschiedssekunden so lange. Wie­der fielen mir ihre preußisch-blauen Augen auf, die jetzt sogar so groß wie Kims Augen waren. Ihr weißes T-Shirt leuchtete in der Sonne.

"Also bis bald!" sagte sie. Ich sagte dasselbe und ging federnd zum alten Wehrmachtskäfer.


War es die Wende?


Foto: Lottmann Images

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