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Stephan und Lojo in Amerika 18


10.7.78


Auf nach Guatemala!

Die „letzten lebenden Lottmann außer Eckart und Joachim“ besuchen. Hamburg anrufen, Einladung besorgen. Die Morrisey-Wohnung war natürlich der große Flop. Todesmetapher auch sie, wie alle Wohnungen, die man selbst mietet. Wann immer ich die Wohnung betrete, überkommt mich Katatonie, ich schlage in voller Länge auf den Fußboden und schlafe ein. Stephan geht es ebenso. An sich ist die Wohnung ja sehr schön, 1946 eingerichtet und seitdem unverändert. Tausend alte Kunst- und Photobücher, Kisten voller Hollywood-Star-Photographien. Aber es bleibt dabei: Hollywood ist tot, für uns. Aus und vorbei. Nichts mehr rauszuholen. Stephan spricht noch immer von der „Chance, die wiederkommt“. Martine will, anstatt zu warten, bis Paul die Milliarden einsackt, Moviestar werden.

Jutta schüttelt in München den Kopf: „Das ist harte Arbeit, Giselchen, da wirst du dich umschauen. Das ist etwas Ernsthaftes.“

Ein paar sterile Figuren gefällig? Liz, die gute Leonard-Cohen-Freundin, die Handlesen kann. Cohen rief mit mysteriöser Stimme an: Martine, ich habe ein Geschenk für dich heute abend.“

Was er meinte, war die Handleserin, die gegen 22 Uhr klingelte. Ihr „Ding“, wie der Seekamp sagen würde, war „sex energy“. Sie erzählte von ihrem Guru, der den Orgasmus sechs Stunden zurückhalten würde, ehe es aus ihm herausbräche. Der Samen zirkuliere dabei beständig in einer den ganzen Rumpf umfassenden Ellipse, das Rückgrat hoch, die Wirbelsäule und das flüssige Mark ausnutzend vorne irgendwie wieder zurück, die Vorderpartie entlang bis zu den Keimdrüsen, eine scharfe Kurve und das ganze wieder von vorne. Das alles immer schneller, lineare Steigerung, übrigens alles im Lotussitz, die Hände über dem Kopf gefaltet, Blume im Mund, sechs Stunden, ach ja, und das Irrste man summt dabei, bssss-bssss-bssss – u.s.w., immer schneller, immer konzentrierter, die Sonne geht unter, die Sonne geht wieder auf, der Akt läuft noch immer, und zwar auf höchsten Touren, die Kinder wachen auf, die ersten Briefträger schwingen sich aufs Fahrrad, die Nachbarn schauen durchs Fenster, die Haustiere wundern sich, die gefalteten Hände werden steif und kalt, die Blume hängt welk zwischen den Zähnen, aber es geht weiter, bssss-bssss-bssss – u.s.w., BSSSS-BSSSSS-BSSSS – UND PENG! Der Orgasmus ist da! Die Sex Energy bricht sich Bahn, die Kühe jauchzen auf der Alm! Jetzt eine Steckdose und das ganze Apartmenthaus wäre zu beleuchten, mit Strom zu versorgen, Rasierapparate und Trockenhauben, alles liefe ohne E-Werk, ohne AKW und KKW*. – Soweit die Handleserin. Cohen hat eine Schnulze über sie geschrieben: „Suzanne“, jeder kennt sie.

Ach, Hollywood. Es gibt keine öffentlichen Nachverkehrsmittel. Jeder hat eben sein Auto. Gibt auch keinen TÜV, keine Führerscheinprüfungen, keine Verkehrspolizisten. Jeder darf fahren und soviele Fehler machen wie er will. Gibt es Tote, deckt Gott die Hand drüber. Apropos Gott: ich sehe ihn hier nirgends. Keine Kirchen, keine Kreuze, keine Redewendungen. Gott gibt es hier nicht, Martines Kinder wissen nicht, was das ist. Hier leben Heiden. An Religiosität werden jährlich zum Herbst 40 bis 45 Pseudo-Ideologien auf den Markt geworfen, von denen sich dann ein gutes Dutzend durchsetzen, für eine Saison. Zum Beispiel eben Sex-energy. Dieses Jahr an der Spitze: Timothy Leary’s space-knowledge. Im nächsten Herbst, also in knapp drei Monaten soll Janov („der Urschrei“) das Rennen machen, der bis dahin ein neues Buch fertig haben soll. Stephan T. Ohrt, mein deutscher Freund, steht außerhalb dieser Dinge. Er betrachtet die Welt, kommt auf eine Wahrnehmung von 16 Bits in der Sekunde, was sehr viel ist, kann nichts anderes tun, als seine bekannten Stümmelsätze zu sagen. Das geht etwa so: Stephan sitzt als einziger im Sessel, um ihn herum stehen zwei Dutzend Menschen, er scheint magnetischer Mittelpunkt der ganzen Party zu sein.

Eine Ex-Aktrice mit Turmfrisur und Abendkleid spricht ihn an: „You look very interesting… like…“

Stephan: No. No. Bitte nicht. Tut die Frau weg. Lojo! Martine!“

Die Turmfrisur: „Like David Bowie, yeah. You look very smart. Where are you from?”

Stephan hält ein Glas vors Gesicht, dreht sich zur Hälfte weg, duckt sich, legt die Zähne frei, sagt: „Ich,… I mean: I,… it is not… no, I cannot… haha, ist doch verrückt die Frau, spinnt doch… it is only: everybody, this David B…, no, no… excuse me, no I am not laughing at you, hahaha, really not… I don’t want to talk with… no, it is impossible,… haha, die ist blöde, wie die guckt, die Brust-Warzen, o Gott,… I… I let me explain… no… it is… it is… no, excuse me… excuse me, hahaha…”

Jetzt liegt Stephan die meiste Zeit in der 1946er Morrisey-Wohnung und liest die kostbaren alten Zeitschriften. Paul Getty überfällt mich jeden Tag und borgt sich hunderte von Dollar. Sehr, sehr unangenehm! Ein elendens Pflaster hier. Das Wetter ist auch nicht so toll. Alles dreht sich im Kreise. Heute abend ist wieder Schauspielschule. Barbara Jones, eine Negerin, die einen angeblich fertig macht*. Sollen nur Neger sein, diesmal, ist eine neue Schauspielschule! So, nun fällt mir nichts mehr ein! Ein Wunder, daß mir bisher immer noch etwas eingefallen ist. Vielleicht bringt Guatemala die große Rettung. Übrigens gibt es doch einige Dinge, die mir gut gefallen, zum Beispiel „Miss you“ von den Rolling Stones, das nur hierher passt. Wenn dieses Stück gespielt wird, passt alles so gut zusammen, daß man für kurze Zeit wieder das abenteuerliche dieser Stadt zu sehen glaubt. Ende des Monats wird Mick hier auftreten, ich werde auf der Bühne sein.





(*20) Mangel an ökologischem Bewusstsein, möglicherweise vorgetäuscht.

(*21) Mangel an politisch-sprachlichem Bewusstsein, möglicherweise vorgetäuscht.

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