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Das Fritz Brinkmann Buch 5 und 6

5. Kapitel


24.12.1976

Um die Revolution aus der Sackgasse zu führen, muß eine Übergangs- und Verschnaufpause-Freundin her. Sie ist da. Sabine.


Sie erfüllt beide Voraussetzungen:

[if !supportLists]1. [endif]Sie ist ein "guter Mensch".

[if !supportLists]2. [endif]Sie ist hübsch, weil jung.


Zu 1.: Sie ist psychisch total intakt. Glänzend-gesundes Elternhaus ohne Streit, liebevoller Vater, verständnisvolle Mutter. Sie drückt sich ohne Scheu aus, überlegt beim Sprechen, sucht nach Begriffen und findet sie auch. Neurotiker und Spinner versteht sie nicht, findet sie aber ganz lustig. Sie redet viel, aber nicht der Wirkung wegen, sondern weil sie jung und frei ist. Wirkungskategorien kennt sie gar nicht. Sie erzählt stundenlang von der Schule und ihren Fünfern und Sechsern, ohne auf den Gedanken zu kommen, das sei nicht gefragt. Sexuelle Probleme sind ihr völlig unbekannt, sie ist 16 Jahre alt, selbstbewußt und nicht intellektuell.


Zu 2.: Sie ist klein (1,60 m), nicht mannequinhaft wie Annerose (unerreichbar!), sondern normal-schlank, d.h. in spätestens zwei Jahren, wenn sie ausgewachsen ist (sie ..... wächst noch!), schaut man ihr nicht mehr nach. Ihr Gesicht ist ausgesprochen schön, was man ja nicht oft sagen kann, lebt allerdings auch zu hundert Prozent von dieser Schönheit. In einigen Jahren, wenn die Schönheit abgeblättert ist, bleibt nichts übrig. Ihre Augen sind sehr schön, haben aber natürliche nicht den tiefgründigen Schleier der Annerose-Augen.


Sie redet viel dummes Zeug, aber: da alles echt ist, macht es überhaupt nichts. Kinder schickt man ja auch nicht aus dem Zimmer, wenn sie aufgeweckt ihre Abenteuer erzählen,


Zum Verlauf des Abends.

Zunächst: Ich hatte mir schon gestern eingestanden, eine Freundin zu jeder Zahlungsbedingung zu akzeptieren. Steuerfreiheit, Vollskontiabschreibung und Sonderpauschale, Investitionen ohne alle Skrupel. (Warum dann nicht Annerose? Weil sie nie von selbst laufen würde. Kaum läßt man mit den mörderischen Investitionen nach, klappt das Unternehmen zusammen.) Also, so ein Star mußte es sein, after all, und ich würde ganz klein anfangen. So weit war bereits alles klar.


Ich hatte - IMMER NOCH - die Nacht miserabel geschlafen und war noch immer nicht vorzeigbar. Aufgewacht war ich mit dem Ruf: verdammte Scheiße. Ich fuhr zum Paketamt, Sabines Paket abzuholen. Die Menschen waren ausschließlich Gast­arbeiter, Perser, Iraki, Araber. Wo waren nur die Deutschen? Feierten sie schon so früh? Es war scheußlich, auch keine Sonne mehr, Kälte, Schlammschnee. Trotzdem dachte ich den Gedanken, daß ich insgesamt mit meinem Münchner Dasein in Einklang war. Ich wurde allmählich glücklich. Der Eva-­action-Tag hatte mich zwar noch einmal runtergebracht, aber insgesamt lebte ich bereits wieder gerne.


Dann war das Paket gar nicht von Sabine, und ich schlich zurück nach Hause. "Alles aus", dachte ich, und gleich darauf: "Blödsinn." Zu Hause schlief ich wieder ein…


Wäre Sabine doch noch gekommen, was ab 12 Uhr mittags schon unwahrscheinlich geworden war, würde ich sowieso nicht öff­nen können: ich sah zu mies aus. Ich wachte nach zwei Stun­den auf, rauchte eine Zigarette und schlief wieder ein. Als ich das nächstemal aufwachte, war es bereits Nacht. Ich zündete die Kerze neben mir an, aß einige Lebkuchen, die da lagen, griff zum Buch (Camus: "Der glückliche Tod") und las. Schön, von Algier zu lesen, überhaupt tröstend, einen Existentialisten zu lesen.


Das Telefon klingelte, Sabine sagte: "Ich komme jetzt!" Ich tanzte durchs Zimmer. Haare waschen, baden, aufräumen, Kakao kochen und - fieberhaft nachdenken. Ich hatte ca. fünf Minuten Zeit dazu, konnte nichts weiter tun, als mir die Worte "liebenswürdig, interessiert, impulsiv, neugierig" einzuprägen. Keine Strategie, doch, einige kleine: baldiges Aufbrechen ankündigen, kleine Tätigkeiten verteilen, nicht rauchen, Palme schenken, Reise nach Hamburg erfinden, viel erfinden.


Es lief so ab, daß ich überhaupt nicht nachzudenken brauchte Geschenke auspacken, Kaffee kochen, sich gegenübersitzen. Spätestens jetzt hätte der kritische Punkt kommen müssen. Doch ich erinnere mich gar nicht daran. Es muß Sabines Verdienst gewesen sein, die einen mörderischen Muskelkater hatte und tausend kleine Themen erfand. Mein Gott, ehrlich gesagt, ich hätte erneut versagt. Ich lachte so gut wie nie, fühlte mich ganz okay, war aber objektiv passiv und funkenlos. Später, im U-Bahnhof, saß ich völlig schweigsam neben ihr, und sie sagte, wobei sie ein wenig gequält guckte, daß es mir jetzt wohl schlecht gehe. Ich antwortete nichts. Vorher, im Zimmer, hatte ich Erklärungen über mich in kalter Offiziersstimme abgegeben, mit abgewandtem Gesicht.


Immerhin, eins funktionierte endlich bei mir: ich wußte wieder, daß es immer von Vorteil ist, wenn das Mädchen viel redet, und ich unterstützte sie dabei durch kleinere Fragen.


Schließlich erzählte sie von ihrem Freund. Obwohl schon angezogen, blieb sie noch eine weitere Stunde, um das zu erzählen. Ich klammerte mich schon seit geraumer Zeit an die Zigaretten, zitterte und hatte flachen, schnellen Puls, fühlte mich kraftlos. Ich WAR einfach kraftlos.


Das mit dem Freund war die Rettung, ich wußte das, und es lief ganz ordentlich. Morgen wollten wir essen gehen.


6. Kapitel


31.12.1976

Sonnenstrahlen lagen auf meinem Gesicht und trieben Schweißtropfen auf die Haut. An der Tür konnte man ein ganz leises, vorsichtiges Klopfen hören. So klopft nur Sabine. Dann hörte ich ihre Stimme, als ich ganz genau hinhorchte. An dem Stand der Strahlen ermaß ich, daß es etwa 13 Uhr war und blieb regungslos liegen. Was sollte sie von mir denken, daß ich mittags noch im Bett lag? Unter der Decke wurde es immer heißer. Nach einiger Zeit setzte ich mich auf und dachte nach. Ein nichtssagendes Viereck Himmel, mehr war von der Welt nicht zu sehen.


Das Telefon klingelte, vierzehnmal. Ich steckte mir eine Zigarette an. Sabine würde zu Richard gehen und von ihm ins Bett gezerrt werden. Endlos saß ich da, oder war es gar nicht lange? Ich glaube, es waren etwa dreißig Minuten. Woran ich dachte, weiß ich nicht mehr. An den Traum viel­leicht, ich hatte immerhin mal wieder davon geträumt, Annerose an andere zu verlieren oder davon bedroht und erpreßt zu sein. Das Übliche. Früher wachte ich auf, und Annerose lag neben mir. Später lag Mia neben mir, und ich atmete auf. Heute liege ich alleine und atme auch ein wenig auf. Anneroses Stellung bei mir ist unhaltbar geworden, DD hat in den letzten Tagen arg an ihr gesägt.


Ich werde glücklich sein oder hopsgehen, werde mich nicht daran gewöhnen, unglücklich, d.h. mittelmäßig zu sein. Irgendwas mach ich mal, und dann komm ich ganz groß, ganz groß raus. Bis dahin träume ich, lasse mich an den äußersten Rand drängen und stehe nur noch auf, um ins Kino zu gehen. Ich vertausche das Kino mit dem Leben erst dann wieder, wenn es dem Leben im Kino entspricht. Annerose aber wird in jenen Gefühlsschichten steckenbleiben, in denen alle meine früheren Freundinnen hängenblieben. Alltag und "na, es geht so."


Das Zimmer war eine Kraterlandschaft, inzwischen war es unmöglich geworden aufzuräumen. Ich putzte mich fein heraus und ging zur Hausverwaltung, ein größeres, höheres, helleres Appartement zu beantragen. Sie hatte geschlossen. Ich fuhr zehn Minuten lang Lift. Immer, wenn ich oben war, wollte ich runter und umgekehrt. Dann ging ich spazieren, in den Englischen Garten. Es war 15.15. Es hatte wieder geschneit. Reiter kamen mir entgegen und alte spazierengehende Herren.


Alle Menschen waren klein in dieser weitläufigen Landschaft, es dauerte, da man jeden schon von weitem sah, Minuten, bis sie an einem vorbeiwaren. Die letzten fünfzig Meter wirkten dabei fast dramatisch, außerdem guckten mich alle an, noch während sie auf gleicher Höhe waren, maßen sie mich aus den Augenwinkeln.


Ich bestieg den Monopteros, der von der tiefliegenden Sonne angestrahlt war. Ich steckte mir eine Zigarette an. Weiße, graue und tiefdunkle Wolken, dahinter BlauI teilweise Dunkelblau, und ein erschreckend heller Mond, trotz rotgelb­orange-zerfließender Sonne. Tausend Kinder mit Schlitten. Das war 1976, dachte ich und lehnte mich an einen Pfeiler.


Die Kirchturmglocken schlugen vier Uhr. Nach zwei Dritteln der Zigarette wurde mir schlecht, ich tastete mit der linken Hand nach dem Pfeiler und rauchte weiter. Der Gesichtkreis wurde enger und ich sah, daß es rund um den Gesichts­kreis dunkel war, daß das was ich sah , ein Ausschnitt war. Zugleich erschien mir das Gesehene irgendwie dünn. Ich guckte wieder zum Himmel, versuchte, Himmel und Erde zu trennen. "Das also ist alles Himmel, und darunter liegt die Erde, als große Scheibe, oder wie soll man es sich sonst deutlich machen?" Es erschien mir noch immer dünn und ich mir selbst lächerlich. Ich machte mir etwas vor, nämlich, daß ich gerne spazierenginge, mich an der Natur ergötzen könnte. Dabei wurde ich innerlich immer unruhiger. Jetzt über eine Frau herfallen! Oder mit dem schwarzglänzenden Spazierstock das Kinn von Mister Redmint Barry hochheben! Oder heimlich Marisa Berenson beobachten, wie sie in religiöse Entrückung gerät.


Ärgerlich schnippte ich die Zigarette weg. Einem gefrorenen Schneeklumpen gab ich einen Tritt und zischte "Arschloch". Blöder Schnee! Alle möglichen Hunde machten ihre Faxen. Jetzt schmiß sich einer mit voller Wucht in den Schnee, als wäre er in einer gut geheizten Badeanstalt.


Ich gelangte an eine kleine geschwungene Holzbrücke, blieb stehen, unter mir ein Bach. Zwei Enten sehen mich un­schlüssig an. Wie auf Kommando schwimmen sie plötzlich weg. Es war ein Pärchen. Wir mußten sie nur frieren! mußte ich noch minutenlang denken. Immerhin, sie paddeln zusammen durch dick und dünn.


Dann ging ich durch ein verschnörkeltes Gußeisentor mitten im Schnee und hatte damit den Englischen Garten verlassen.Plötzlich war weit und breit kein Mensch mehr, und die Nacht war zum größten Teil hereingebrochen. Warum schaltete keiner die Straßenbeleuchtung ein? Alle Cafés waren ge­schlossen. Ich kam zu Hause an , kochte Kakao und aß Stollen. Die fast volle Zigarettenschachtel warf ich über den Balkon. "In seiner freien Zeit glücklich zu sein, ist eine schwere Kunst, die nur wenige erlernen", fiel mir Albert Camus ein.


Als ich wieder aufwachte, war es Nacht. Ob schon 1977 war? Die Uhr war stehengeblieben. Verdammt, und ich hatte mir extra einen Fernsehapparat geliehen, um Schmidts Neujahrs ­zu sehen. Ich ging im Zimmer auf und ab. Ich trug einen Brotkrumen von einem Ende des Zimmers bis zum Klo, obwohl die ganze Wohnung schmutzig war. Ich setzte mich hin und dachte nach. Ich - bin - da, ich - bin - auf - der - Welt Ich – habe - Zeit. Ich - habe - heute - keinen - Termin. Ich hatte keinen Termin! Mir kam es plötzlich als Ungeheuer­lichkeit vor, ich war in einem Zustand der unbegrenzten Möglichkeiten! Ich könnte zum Beispiel, was ich immer schon wollte, etwas fürs Deutschheft schreiben, endlich publizieren. Darauf stehen ­die Leute doch so. "Das Zeug zum Schrei­ben hat er ja", sagen schließlich diese und jene. Ich rief die Telefon-Zeitansage an. Es war 19 Uhr.


Ich schaltete den Fernseher an, und Helmut Schmidt begann, offenbar schon etwas ungeduldig, seine Rede. Ich mußte sofort lachen. Der Fernseher stand auf der einen Seite des Tisches, ich war auf der anderen Seite. Ich versuchte, Blickkontakt zu Schmidt herzustellen, was auch vollständig gelang. Er schaute mir immer öfter und länger in die Augen, und ich versuchte so zu gucken, als hörte ich angestrengt zu. Dann aber mußte ich ein Lächeln unterdrücken, doch es ging nicht, schließlich lächelte ich und erwartete mit ängstlich klopfendem Herzen, daß er den Faden verlieren würde. Schmidt guckte jetzt mehr auf den Tisch, machte kürzere Pausen, und man sah ab und zu ein weißes Stückchen Papier, das Ende eines Blattes, von dem er ablas. Er wollte die Sache schnell hinter sich bringen. Schließlich, als er zu­ende gesprochen hatte, blickte er doch noch auf und begann, verhalten zu lächeln.


Das Telefon klingelte, Richards Schwester. Ich schwärmte ihr von Schmidt vor, ihr, die sie im MSB Spartakus organisiert ist, und disqualifizierte mich in ihren Augen auf Jahre.


Dann holte ich Richard, blieb mit ihm zusammen. Er war noch immer gehässig, erzählte dann aber, daß er ein großes, helles, hohes Appartement für mich beantragt habe. Er zeigte sich enttäuscht darüber, daß ich die Hamburgreise abgeblasen hatte, schenkte mir aber den Fernsehapparat.


In Richards Zimmer, etwa eine Stunde später, wurde Schmidts Rede im anderen Programm nochmals zeigt. Ich saß davor und wiederholte alle markanten Worte. "Opfer bringen", "frohes Herz und Gelassenheit", "Exportabhängigkeit", "wir können zufrieden sein", "wir müssen uns an das Außergewöhnliche gewöhnen", "Solidarität", "der Verantwortung gerecht werden", "verstandenes Eigeninteresse", "nie mehr wird die Welt, was sie vor 1974 war". Emphatisch formte, ich die Worte nach, wippte aufgeregt auf der Bettmatratze und hatte, meinte Richard, glühende Wangen.


Richard machte seine Wohnung sauber, scheuerte mit Wachs den Fußboden. Ich steckte mir zwei Zigaretten an und legte die Beine hoch. Wir plapperten. Ich erzählte von meinem Spaziergang zum Monopteros und mein Gefühl der Dünne dabei. Ich sprach auch von dem „über eine Frau herfallen“, und er sagte sehr sorgsam, daß er leider nicht mehr wisse, ob er mir glauben solle. Man nahm mich also ernst, stellte ich er­staunt fest.


Ich erzählte vom Bergman-Film letzte Nacht. "Ein 45jähriger . Advokat heiratet eine 16jährige Jungfrau, rührt sie nie an, weil er warten möchte, bis sie erwachsen ist und von selbst kommt." Richard lachte dreckig. Ich sprach von seinen niederen Trieben, der Blondine von gestern und von meiner Enthaltsamkeit, der Veredelung der Sinne und des Charakters. Richard leerte die Aschenbecher und erzählte von einer 60jährigen Tante, die immer noch Jungfrau sei, und bot sich an, mir ihre Bekanntschaft zu vermitteln. Ich entgegnete, daß ich Sexualität durchaus befürworte, wenn sie die Ehe als Basis habe. Er lachte mich aus. "Da hast a Ehe und was hast, nix hast, dei Frau liegt in Hamburg mit einem andern im Bett." Ich paffte munter an den zwei Marlboros und verfolgte fasziniert Richards Aufräumungsarbeiten. "In der Beziehung warte ich auf Sabine", sagte ich und schämte mich. Ich ging.


Unten kochte ich wieder Kakao und aß Stollen. Ein ohren­betäubendes Krachen weckte mich. Ich wollte weiterschlafen, aber es wurde immer lauter. Ich entdeckte ein Buch von Handke in meinen Händen und eine Lampe, die ein Loch ins Kissen gebrannt hatte. Das ganze Zimmer roch verkohlt. Draußen bollerte und zischte es. Ich sah auf die Uhr: 24 Uhr.


Ich ging zum Fenster. Jäh leuchteten Silhouetten auf, Zinnen, Schornsteine, Dachvorsprunge sprangen, von verschiedenen Punkten aus angestrahlt, hin und her. Das Telefon klingelte, DD. Er meinte, 1976 sei für mich ein bedeutendes, gutes Jahr gewesen. 1980 würde ich es wissen. Ich hätte die Jahre davor im Grunde immer dasselbe gemacht, jetzt dagegen ändere sich alles.



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