Shakespeare und die anderen großen Meister definieren den Liebenden immer als denjenigen, der ungeheure Freuden und ungeheure Qualen gleichzeitig durchlebt. Ich stutzte - waren die Leute früher denn auch solche Neurotiker?
Leider wird nie gesagt, wie diese Qualen aussehen. Beschrieben wird stattdessen nur der eine Aspekt - die Freude, und zwar so, daß ich sagen muß: ich passe. Vom Elysium ist die Rede, der vollständigen Wonne, dem Verschmelzen, von Rausch, Verzückung und Tod. Unbeschreiblich sind die Gefühle, werden aber lang und breit beschrieben. Unbeschreiblich" sei die gegenseitige Freude, sich zu besitzen, einander anzugehören, in den Augen des anderen ein Glück, eine Harmonie ZU finden, die unermeßlich schien. Schön.
Und die Qualen? Beziehen sie sich auf die unglücklich Liebenden? Nein. Shakespeare erklärt ausdrücklich ALLE als glücklich und leidend. Vielleicht fehlte es den alten Meistern an der nötigen psychologischen Terminologie, um auszudrücken, was in einem Menschen, was mit seiner Identität im Moment und im Prozess des Sichverliebens geschieht? Doch davon abgesehen: muß man sich überhaupt quälen, ist der Satz überhaupt richtig? Zwar trifft es auf mich zu, doch hielt ich mich immer für eine Ausnahme in dieser Beziehung. Ich kenne jedenfalls keinen Verliebten. Der, so wie ich, wegrennt, Inszenierungen ausarbeitet, professionelle Sexualökonomie betreibt, vor Unterlegenheits-gefühlen erstickt bei den Treffen nicht erscheint, weil der Kopf platzt vor Kopfschmerzen. Udo Lindenberg: ·Und nachts - konnte ich nicht schlafen - und wenn - dann hab ich nur von dir geträumt." Ich: "- und wenn - dann hab ich nur Horror geträumt.
Ich verabrede mich nicht mehr mit Mädchen, die ich liebe, weil ich sonst die ganze Zeit bis zum Termin nicht schlafen könnte, alle Gesichtsfarbe verlöre und als blasses Gespenst, mit zittrigen Händen, zum Treffen erschiene. Ja. das sind Qualen, in den Büchern der alten Meister kommen sie nicht vor - kommen sie sonst noch vor? Gottlob, bei Handke, so scheußlich echt und unausbleiblich, daß man mit der Zunge schnalzen möchte. Aber sonst? Alle verachten Handke. alle tun ihn ab, lesen ihn nicht, haben ihn im Bücherschrank und behaupten, über die ersten Seiten nicht hinausgekommen zu sein. Sie sind sowieso beknackt, ich glaube es ihnen.
Und die guten Leute. die Verstörten und Tiefverstörten? Eva. Ich rief sie an.
"Eva. ich habe so ein unbeschreibliches Gefühl der Freude und, äh, der Qual, weil… ich mit zwei Mädchen, die mir viel bedeuten. nach Venedig fahren soll."
Eva, die selbst schon viel über Alltagspathologie geschrieben und erzählt hat: "Oh, nach Venedig, das ist doch, verzeih!, TOLL! Nach Ve-ne-dig! Was soll denn da nicht gut sein hör mal. Oh Mensch, Junge Junge. Erzähl doch mal, wo liegt der Haken?"
Ich: "Na. es ist natürlich blöd. wenn man dem Volksmund trauen darf, ist die Zahl drei verdammt mies. Drei ist nicht gut, du weißt schon."
Eva: "Da würde ich mir keine Gedanken –"
Ich: „Ja, nein, ich fühle mich dem nicht gewachsen, es steht zuviel auf dem Spiel, sie halten mich für engagiert und enorm phantasievoll und – "
Eva: "Aber das bist du doch auch! Junge, alter Spinner, take it easy!"
Ich: "Eva, du weißt doch selber, wie es ist!"
Eva: "Ach, Mann, Venedig, Sonne, Auto auf kochenden schwitzenden Serpentinen, Abenteuer und so weiter, die Sache ist doch hundertprozentig, ist doch dein Spezialgebiet."
Ich: "Ja, denke ich ja auch. Trotzdem! "
Wie gelähmt verbrachte ich die letzten 24 Stunden im Bett. Die fieberhafte und äußerst lustvolle Aktivität der letzten Wochen war verschwunden. Der Schreibtisch krächzte, soviel Bücher, Artikel u. ä. lagen da', angefangene Sachen, Dinge, die ich gestern noch mit kleinen Schreien im Antiquariat entdeckt hatte, die Aufnahmeformulare für die Schauspielschule, der angefangene Lebenslauf, das angefangene Regiebuch. Ich aber nippte am Glas Orangensaft und guckte mit einem Häschenblick aus dem Fenster. Unfähig zu denken. Unfähig aufzuräumen, die Koffer zu packen, neue Socken anzuziehen. Ich spielte mit der Barry-Lyndon-Pistole und sagte tonlos peng. Griff zum Telefonhörer und rief Diedrich an. Ein gutes Gespräch.
Danach wieder: mühevolle, knetige Versuche zu denken. "Also nochmal. Die Fahrt, worum gehts eigentlich. Will ich eigentlich oder will ich nicht_ Venedig. Auto. Verdammter Mist. Stöhn. Scheiße. Peng. Peng…“
Auf der Post versauerte inzwischen ein Päckchen für mich. Es klingelte mehrmals an der Tür. Laute Musik bei Richard. Eva wartet im Capri. Um sechs würde Maria kommen, mich abholen (Maria ist eines der beiden Mädchen).
Ich putzte das Badezimmer, wusch das Geschirr ab, machte das Bett, packte einen Koffer. Eine frische weiße Hose, fünf neue weiße Hemden, eine silberne Krawatte, ein beiger Sommermantel, Socken, Unterwäsche, Seife, Parfüm, Zahnbürste. Ein Buch von Anais Nin.
Ich war fast fertig und endlich vergnügt. als Maria kam. Wie immer zeigte ich ihr sofort dies und das, hielt ihr die neuen Hemden und die Hose, die sie noch nicht kannte, vor die Augen, sagte zwei, drei Meinungen über Anais Nin, ging dabei aufgeregt auf und ab, packte den Koffer zu Ende, rannte sie mehrmals um dabei. Geschirr ging fast zu Bruch. Maria guckte mir verhalten lächelnd zu, ließ sich willig (und etwas ungelenk) hin- und herschicken, machte etwas stockend Bemerkungen, ging dann auch auf und ab. Sie grinste öfters und strich sich etwas hastig das Haar zurück.
Wir taten mehreres gleichzeitig: ich, während ich eine Stelle laut vorlas, stauchte das Federbett zurecht, sie, währendsie zuhörte und mit den Gesichtszügen spielte, fechelte mit dem Fensterflügel Luft ins Zimmer. Ich riß sie an mich und küßte sie. In Gedanken.
Ungebrochener Spieltrieb: absurd vollgepackt (mit drei Koffern) ging es in den Lift, humpelnd, ächzend. Auf die Frage, wie es ihr eigentlich gehe, sagte Maria:
"Ach, oh, wir fahren wirklich nach Venedig, sowas!"
Dann holten wir Julika ab, fuhren hin, Maria blieb sitzen, ich rannte hoch, noch immer überlegend, aber so hektisch, daß ich ohne zu zögern klingelte.
Julika hatte ein betretenes Gesicht, aber das hat bei ihr nichts anderes zu bedeuten, als daß sie momentan und nur für Sekunden über etwas ärgerlich ist. Aha, die Schule war nervig. Gut.
Sie fläzte eine Reisetasche vor meine Füße, besah sich mürrisch im Spiegel, zupfte an sich hier und da herum, als Mädchen.
"Mensch bin ich froh", rotzte sie, "aus dieser Scheiß-Fick-Stadt endlich rauszukommen." Türeknallen, Treppepoltern, Erzählen, Lachen, ins Auto steigen, Losfahren.
Nun wird es schwierig, und es ist mir fast unmöglich weiterzuschreiben. Wir fahren noch eine Stunde verkehrt durchMünchen, zur Erheiterung aller Beteiligten, dann ist die Autobahn da, und es redet nur einer: Julika. Unbefangen und selbstverständlich plappert sie von der Schule, vom Essen, von Reisen mit ihrem Papi, spricht Maria an, fläzt sich querauf die Rückbank, singt Liedchen. Auch Maria summt Liedchen. Schöne Stimmen.
Ich spüre Maria neben mir, sehe sie mal an und lächle, spüre sie wieder neben mir, peripher nehme ich wahr, daß sie auf die Straße blickt und ebenso peripher mich wahrnimmt wie ich auf die Straße blicke. Nachdem ich zehn Minuten so dasitze, meistens lächelnd (oder "zerstreut-ernsthaft"), bemerke ich,
daß ich seit zehn Minuten nichts gesagt habe und denke mir, ich sage jetzt mal was. Doch was? Es ist wie eine Ladehemmung ,ich bin so unkonzentriert wie in den Stunden zu Hause auf dem Bett.
Dabei "läuft" es mit Maria immer gut, immer, sonst. Keine Probleme, im Gegenteil. Zwanghaft denke ich, daß sie denkt, daß ich denke, ich sollte mal was sagen. Und wahrscheinlich denke ich sogar richtig, sie ist so eine, sie blickt durch, sie liest selber Handke, nicht grundlos.
Julika dagegen ist völlig sorglos.
"Elende Sauerei, jetzt fängt es gleich an zu pissen, na, wenn das in Venedig nicht anders ist, häng ich mich auf, weiß Gott, so ein Scheißwetter. Ach, Venedig, Venedig, ich freu mich halb tot, hihi, gespannt bin ich. Sag Lojo, ist
dein Regiebuch fertig oder hast du das auch aufgegeben?" (Wieso 'auch'?) (Vielleicht seh ich so aus?) (Mensch, da Regiebuch, keine Ahnung.) (Schnell antworten!)
"Hm, ne, ne, aber irgendwie ... ich meine, es liegt kein Beschluß vor… daß ich es nicht mehr machen… würde…" Julika wartet den Satz gar nicht ab, jedenfalls sagt sie: "Ich muß mal was von Ti-Es-Eliot lesen ... !" (Schnell was dazu sagen - T.S. Eliot!) (Über den weiß ich nichts) (Einfach zugeben - ah, zu spät.)
"In der Schule nerven die jetzt, Maria. Der Herbi macht auf Philosoph, die Maria II auf doof, der Timmy so auf Zyniker, oh Mann, zuerst ist es noch lustig, aber dann nervt es, einfach, weil es auf die Dauer langweilig ist." (das ist schon
lustig) (Aber sagen kann ich dazu nichts) (Psychologie. Rollenverhalten.) (Spiel. Realität. Schauspiel-Beruf. Freunde) (Ich krieg das nicht in einen harmlosen Satz.) (Erstes Gespräch anfangen?) (Später, nicht jetzt, kann gar nicht, will auch nicht.) (Vielleicht sollte man ganz am Anfang diese, uff!, ernsten Gespräche hinter sich bringen.) (Nein, das ist unmöglich, das sind doch keine Teenies mehr, und selbst wenn, es kotzt mich an.)
In der Tat: da muß ich mir nachträglich recht geben, ein Psycho-Gespräch, ein Gerede über Rolle, Erwartungshaltunqen, Autoritätsstrukturen undsoweiter wäre das Letzte gewesen. Isabelle Hofmann 1970, okay Renate Laumer 1976. schon höchst bedenklich. Wärest du dabei gewesen, so hätte man es allenfalls noch SPIELEN können: Julika Epstein in der Rolle der Isabelle. Maria Böhme in der Rolle der Renate. Die Presse schreibt:
"Mit der Rolle der kräftigen. vitalen Julika Epstein hat die Regie die Rolle der Isabelle optimal besetzt, lange hat man auf eine solchermaßen überzeugende und erlebnishafte Isabelle warten müssen. Maria Böhme als Renate wiederum
bedeutet einen Schritt nach vorn, ein Schritt hin zum Experiment, zum Wagnis, zum Lösen von der Vorlage. Renate Laumer heute ist differenzierter, zappelt in ihrer Vorlage hin und her, bricht noch aus und wartet unvermittelt mit Reizen auf, die den Zuschauer immer wieder zu neuen Fragestellungen zwingen. mit einem Wort: eine Renate Laumer, die es dem Publikum nicht leicht macht, die nicht zuletzt durch ihre Fähigkeit, angenehm zu schweigen, zu einer gleichwertigen Figur mit Isabelle heranwächst."
Aber du warst nicht da. Ich konnte weder spielen noch überhaupt erkennen, was „gespielt“ wird, worum es sich handelte. Die beiden Mädchen bedienten sich eines vierjährig eingespielten Interaktionssystems, und bei mir brach aus den niedrigsten Anlässen die Paranoia aus. Ich hatte niemanden, mit dem ich mich über die Lage verständigen konnte, niemanden der durch einen kleinen Tip meine heillose Verstörung, die alle naslang wie ein Winterregen auf mich niederging, verscheuchte. Dabei wäre Maria; als Handkeleserin, ausgezeichnet dazu in der Lage gewesen. Doch das erstemal, daß wir allein waren, war in der späten Nacht des ersten Reisetages.
In Österreich, in einem lächerlichen Weiler, drei Bauernhöfe, ein verfallenes Gasthaus, das uns staunend aufnahm. Ich gingnoch, spazieren, Maria ging mit. Es war völlig dunkel, die Sterne allein spendeten das bißchen Licht, das nötig war, den Weg zu erahnen. Ich sagte, wobei mir meine Stimme in der Einsamkeit laut vorkam, daß ich gern mit ihr allein gefahren wäre. Ich sprach jetzt leise, und es begann mir Spaß zu machen, einen sinnlichen Ton anzuschlagen. Sätze wie: "Du mußt nämlich wissen, daß du mir mehr bedeutest als du ahnst", spreche ich immer gern, und natürlich in der entsprechenden Stimmlage.
Sie sagte: "Ich bin bloß froh, daß du jetzt mein Gesicht nicht sehen kannst." Mir wurde bange vor dem Ton, die ganze Stimmung war so, daß jeder normale Mensch den ersten Kuß erwarten würde, doch ich fühlte mich zu schwach dafür und schob den Gedanken daran von mir. Ich versteifte mich auf eine etwas mürrische Haltung, die ich ja auch hatte, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mir hartnäckig die Sterne an, die jetzt sichtbaren unheimliche Berge links und rechts, die Nebelfelder. Trotzig stand ich vor ihr.
Wir gingen zurück, sie in ihr Doppelzimmer zu Julika, ich in mein Einzelzimmer. Dort fühlte ich mich so miserabel, daß ich vor lauter schwerem Herzen die halbe Nacht nicht schlafen konnte. "Morgen das Frühstück!" dachte ich immer wieder sorgenvoll und war wieder hellwach. "Und dieser Spaziergang! Das letzte Stück zurück wäre ich fast gerannt, weil ich den Atemrhythmus nicht mehr unter Kontrolle hatte und Angst hatte, schlucken zu müssen, laut schlucken zu müssen. Ich werde ihr nicht mehr in die Augen sehen können. Konnte ich das je? Nein, wem kann ich schon in die Augen sehen, niemandem, höchstens Annerose. Und die weiß, warum sie nicht mehr mit mir zusammen sein will. Sie hat mich gern, aber ich bin ihr nicht Manns genug. So wird es immer sein, die Leute erkennen einfach, wie erbärmlich ich bin, es sind ja keine Vierzehnjährigen mehr. Ach, die Vierzehnjährigen, könnte ich doch noch einmal mit einer Vierzehnjährigen gehen, das wäre was! Aber es geht nicht mehr. Hier liege ich im kalten Bett in dieser kalten Stube, allein natürlich. Wenn ich ehrlich bin, so werde ich nie mehr anders liegen. Zweimal im Jahr mit einer frigiden, abstoßenden Studentin werde ich schlafen, oh mein Gott. Freunde habe ich keine, es ist unglaublich, und diese beiden Frauen hier haben auch gemerkt, daß nichts mit mir los ist. Nenn die Fahrt doch bloß schon. hinter mir läge! Ich kann nichts machen, als die Minuten zählen. Sobald wir in Venedig sind, fahre ich heimlich weg, allein, zurück nach München, Geld lasse ich ihnen genug. Sie finden sofort einen, der sie mitnimmt… "
Endlich schlief ich ein. Der Schlaf war dünn und nur etwa zwei Stunden lang. Es klopfte (die Wirtin), und ich sprang auf, zog die Sachen an, drückte die Klinke, erschrak: wenn mich die Mädchen jetzt im Flur ertappen! Ich schlich nach unten, erreichte die Haustür, trat ins Freie.
Wunderbar. Kühe, Berge, Kinder. Es war erst sieben Uhr. Morgennebel. Von überallher kamen Kinder, die zur Schule gingen. Sie trugen Zöpfe, hatten Wollröcke und Wollstrümpfe an. Ein kleiner Junge, den ich fassungslos angestarrt hatte, sagte: "Grüß di!" und guckte mich freundlich und aufrichtig an. Ich ging den Kindern hinterher, kam dabei in einen Laden, wo ich Milch kaufte. alle Kinder grüßten mich, zuerst erschrak ich etwas, später nicht mehr.
Zurück im Gasthaus erzählte ich Maria alles über diesen frühmorgendlichen Spaziergang. Ich hatte zwar ihren ersten Blick gesehen, ein Blick voller Befremden und Unlust, aber es ging trotzdem sehr gut. Dann kam Julika dazu, ich wollte weiterreden, aber mir fiel nichts mehr ein. Das Frühstück war tödlich, wie befürchtet. Julika war zunächst mürrisch, begrüßte mich nicht, ich dachte: ich sollte sie schnell fragen, wie sie denn geschlafen habe. Ich sollte so lange gut gelaunt sein, wie ich nur konnte, sie hatten es doch einfach nicht verdient, daß sie mit so einem faden Typ fahren mußten. Sie zahlten jeder 200,-- für diese Reise, das war viel für sie, ich sollte alles versuchen, zumindest versuchen, sie zu erfreuen. Mir selbst gegenüber sollte ich guten Willen aufbringen. Kategorischer Imperativ, wie Kant sagt. Sich nicht jede Schlappheit durchgehen lassen.
Ich sagte: "Hast du gut geschlafen, Julika?"
Sie brummte nur, ließ sich durch mich Affen nicht dabei stören, mit unwirschen Bewe~unge1" in ihrer Reisetasche zu wühlen. Dabei, das wußte ich und machte es mir klar, hatte sie nichts gegen mich, war nicht nachtragend, würde mich am Ende gar mögen. würde mir ganz sicher helfen, wenn ich mal in Not sein sollte. Hätte ich den Mut zu mir selbst, sie würde für mich da sein. Sie war kein schlechter Mensch, im Gegenteil. Das bißchen Menschlichkeit, das sie jetzt für mich empfinden würde, würde bereits stärker sein. dachte ich, als das, was Maria je für mich empfinden könnte. Julika war menschlich. Ob sie mürrisch war beim Aufwachen oder schrie, was auch vorkam, oder mädchenhaft hell lachte oder mit Maria redete - immer war sie natürlich, selbstverständlich, in sich stimmig. Da war nichts zu machen. Da blieb einem die Sprache weg.
Und wann immer ich den Mund aufmachte, war ich im Unrecht. Meinungen, noch bevor ich sie entwickeln kennte, wurden im Ansatz zerstört. Meine Gedanken, kaum daß sie sich zaghaft zu formieren anschickten, stoben in wilder Panik auseinander, ein ums andere Mal, wenn Julika einschritt. Was sollte man auch anderes erwarten bei einem Menschen wie mich, der sich noch keinen festen Vorrat an Meinungen angeschafft hatte. Der seine Meinungen jeden Tag, je nach Situation, neu und anders bastelte und abends leichtfertig wieder vergaß, einfach wegwarf! Oh wie lächerlich ich dastand, ein ums andere Mal auf dem Rückzug, eine Position nach der anderen preisgebend. Kann es sein, daß ich richtig Angst vor ihr hatte?
Einmal, als ich wieder irgend etwas falsch gemacht hatte, kam sie auf mich zugestürzt wie eine Bombe, sie schrie mich so an, dass ich glaubte, gleich würde sie mir eine kleben. Aber allmählich merkte ich, dass sie manchmal richtig beknackte Sachen sagte, und ich ahnte, daß Olaf Moll sie in die Pfanne gehauen hätte. Meist widersprach ich unwillkürlich und heftig, doch gegen ihren gesunden Menschenverstand, ihre festen Werte und ihr Temperament war nichts zu machen.
Natürlich faszinierte sie mich, sogar ihre Wutausbrüche und ihr kleinkarierter Materialismus beeindruckten mich maßlos. Wie man nur so denken konnte! Nicht das Erlebnishafte zählte, sondern der materielle Vergleich. Etwa:
„Diese SCHEISS-Fahrt! Dieses SCHEISS-Auto! Ununterbrochen Schwierigkeiten! Unterbrechungen! Ununterbrochen schwebt man in Lebensgefahr! Dauernd passiert was, womit man nicht rechnet! Das hier ist ja wohl das Unmöglichste, was ich je erlebt habe, diese Scheiße hier!"
„Aber man erlebt doch mal was, findest du nicht?“
„Ich will nichts ERLEBEN, verdammt nochmal, ich will nach Venedig. Nach
VE-NE-DIG, du Idiot!“
Tja, mein lieber Eckhart, überlege mal selber, was man da hätte sagen können. Bedenke, daß es blitzschnell kommen muß. Zudem war ich unkritisch geworden. Zurückgeworfen auf mich selber, ohne Gesprächspartner, kam ich mir so klein und häßlich vor (tatsächlich vermied ich, in den Rückspiegel zu sehen, weil ich dachte, ich müßte erschrecken), daß eine kritische Haltung gegen irgend etwas anderes als mich selbst undenkbar war. Und so blieb es dabei: ich war fasziniert von dieser Temperamentsbestie.
Maria erschien mir daneben bedeutungslos, wenn ich sie auch sehr gern mochte und mich immer stärker nach ihrer Liebe sehnte. Natürlich traute ich mich nichts mehr. So idiotisch es klingt: als sie sich im Hotelzimmer auszog, begann ich sie richtig zu mögen. Ein Mädchen! Kein Mannweib.
Einmal geschah etwas Merkwürdiges: Julika war für zwei Minuten in einem Laden verschwunden, und ich stand mit Maria allein auf der Straße. Maria nannte mich "Bubi-, und ich hätte ihr beinahe eine gescheuert. In einem eiskalten Ton, über den ich selbst erschrak, wies ich sie zurecht. Ich empfand es als Ungeheuerlichkeit und merkte dann erst, daß JULIKA mich die ganze Zeit wie einen Bubi behandelte, mich vielleicht dauernd so nannte, ohne daß es mir auffiel. Bei Maria dagegen fühlte ich mich weiß Gott nicht wie ein Bubi, sondern als Mann.
Später, einen Tag vor der Abreise, machten sich die beiden über mich lustig, nannten mich „den Eunuchen“, und ich ging mit morschen Knochen nach Hause. Ich ging schließlich allein, nachdem ich erklärt hatte, mir wäre übel. Sie hatten irgendetwas in mir auf den Kopf getroffen, wahrscheinlich Kastrationsängste. Schlimm war, daß Marie mitgelacht hatte.
Ich rauchte eine Zigarette, auf dem drittklassigen Hotelbett liegend. Eine Chance zur Besinnung? Nein, die beiden kamen bald zurück, Marie fragte, ob ich wohl Gift genommen hätte? Julika, die kleine Kanonenkugel, packte sich auf eine Seite und schlief ohne Zögern ein. Maria und ich lagen rauchend und schwiegen uns an. Nach einiger Zeit kicherte sie, versteckte sich unter der Decke und ich rauchte allein weiter. Ich wartete, bis sie schlief, schlich mich aus Bett und Zimmer und fuhr nach München zurück.