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Das Fritz Brinkmann Buch 9

9. Kapitel

9.5.1977


Gestern … eine sonderbare Handlungsfolge von Sinnlosigkeiten. Ich gehe, Hand im Jackett und stolz, ins Haus, finde eine "Nationalzeitung", fahre hoch, fahre wieder runter, gehe zur Telefonzelle, rufe Annerose an, die aber meldet sich nicht, fahre wieder hoch, lese "Nationalzeitung“ rauche Pfeife, Beine auf dem Tisch, beschließe Annerose, wie auch immer zu kontakten, fahre runter, rufe Stephan Ohrt an, als Mittelsmann, der meldet sich auch nicht, ich· fahre zum Hauptbahnhof, zur Post, schreibe einen Eilbrief, Post hat zu, ich gehe zu den Bahngleisen, warte auf denZug nach Hamburg, um den _ Brief in den Postwagen zu werfen , warte lieber eine Stunde auf den Zug. Ich sehe mir den ganzen Betrieb an. Das Sexkino, die Zeitungsstunde. Ich laufe die Bahnsteige ab und gucke in die Abteile. Die meisten Züge fahren nach Südosteuropa. Es ist eiskalt.


Alte Schwule versuchen, mit mir anzubändeln. Ich stehe an einem Geländer, neben mir spricht eine betrunkene Frau auf einen türkischen Geschäftsmann und einen kahlköpfigen Schlesier ein. Dann kommt ein 16jähriger Junge, humpelt etwa s, entpuppt sich als ihr Sohn. Er will die betrunkene Mutter nicht fahren lassen. "Ich kann es nicht verantworten!' sagt er immer wieder. Die betrunkene Frau wendet sich an den Türken und den Schlesier, der Schlesier sagt: "Mutti , Sie können doch nicht Ihren Sohn im Stich lassen." Sie faucht: Wenn Sie noch einmal ‚Mutti‘ zu mir sagen, spreche ich kein Wort mehr mit Ihnen!“ Der Sohn wendet sich an den Schlesier: „Wissen Sie , meine Mutter kann nicht fahren, will -" Die Frau hebt drohend den Arm. "Sei still !"

"Ich muß es jetzt sagen, weil es sonst zu spät ist. Meine Mutter hat nämlich -"


"Ein Wort und ich schlage Dir ins Gesicht, wie Du es noch nie erlebt hast!"

"Ich muß!"

"Du wirst es nicht wagen!"

Der Schlesier mischt sich ein:

"Mutti", sagt er etwas quengelig, "Du kannst doch Deinen Sohn nicht im Stich lassen."

Ein Polizeibeamter mit Pistole steht vor mir. "Haben Sie eine Fahrkarte?"

"Nein", sage ich fest.

"Warum stehen Sie hier?"

Ein zweiter Polizist mit Pistole kommt von der anderen Seite her auf mich zu. Ich sage kalt:

"Ich bin hier, um einen Brief in den Postwagen nach Hamburg zu werfen."

"Was? Sie wollen in den Postwagen, Sie wollen tatsächlich Ihren Brief -?"

Er spricht etwas in sein Funksprechgerät, sagt dann, wobei seine Augen klein werden:

"Weisen Sie sich aus."

"Ich habe leider nichts dabei, wie das so geht, wissen Sie."

"Zeigen Sie mir etwas, woraus Ihre Identität er sichtlich wird "

Ich wühle in den Tasch en. Er zuckt nervös, behält seine rechte Hand an der Hosennaht, der andere Beamte nimmt mir den Brief ab. Dann werde ich abgeführt. Die Leute gucken ängstlich, manche feindselig, der eine Beamte spricht ununterbrochen in sein Funkgerät. Man führt mich in ein Büro, nimmt die Personalien ab und läßt mich laufen. Der Vorgesetzte im Büro hatte sicher sofort gemerkt, daß ich durch und durch integer bin. Ich fahre mit der S-Bahn bis Marienplatz. Dort warte ich auf die U-Bahn. Ein Mädchen, etwas zu dick, um mir gefallen zu können, steht weit vorne am Bahnsteig, streicht immer wieder hastig die langen Haare zurück, wirft den Kopf ruckartig nach hinten, sieht niemanden an. Sie ist in viel zu enge Jeans eingepackt und in eine hochsitzende Lederjacke. Am Hals ein weißes Tuch. Ich setze mich in ihre Nähe. „Wie sie wohl lebt?" frage ich mich.


Sie hat große und/aber etwas häßliche Augen. Sch.warz geschminkt und grob. Während ich mich setze, glotzen mich diese großen geschminkten Augen angstgeweitet an. Ich habe die Hand im Jackett. Mit dem anderen Arm vollziehe ich die verrenktesten Bewegungen, so daß man erkennt: der eine Arm ist gelähmt. Das wird das Mädchen gütlich stimmen.


Wir fahren bis Endstation. Energisch stehe ich auf, als wüßte ich genau, wie es nun weitergeht. Ein schweres Ächzen unterdrücke ich heldenhaft, nur da s Gesicht ist natürlich schmerzverzerrt. Nicht nur der Arm ist gelähmt, auch das Bein schleife ich wie einen toten Gegenstand hinter mir her. So bin ich langsamer als sie, sie überholt und geht auf einen Bus, der an der Endstation wartet. Mein Mund ist ein Strich, und die tausend klitzekleinen Schweißtropfen in meinem Gesicht sind fast zu sehen. Zitternd sucht meine gesunde Hand eine Haltestange, ich blicke um mich, mehrere Sekunden lang, schlage dann die Richtung zum Mädchen ein, setze mich, schwer niedersinkend, ihr gegenüber. Erleichtert blicke ich um mich. Ich atme schwer aus und beginne dann zu sprechen.


"Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja - so ist es."

Das Mädchen zeigt Reaktion. Dann lehne ich mich umständlich etwas vor, fahre mit der gesunden Hand einigemale durch

die Luft, schürze die Lippen und frage höflich:

"Wohin fährt denn der Bus?"

Das Mädchen ist durcheinander, ich sehe jetzt, obwohl ich da jetzt gar nicht hinsehen will, daß ein Knopf ihrer Bluse geplatzt ist. Das Fett darunter bewegt sich krampfartig. In Gedanken sehe ich schon die verruchtesten Dinge. Das ist mal wieder typisch für mich. Da bilde ich mir immer ein, etwas Besseres zu sein, und dann steige ich einfachen und ordinären Mädchen hinterher, nur weil sie hautenge Sachen tragen. Ich bin genauso vulgär und kulturlos wie alle anderen Männer. Ja, warum soll ich es noch länger, ich bin ein Schwein , nichts weiter, ein richtiges Schwein. Wer weiß, was ich alles täte, wenn betrunken wäre, wer weiß, was ich nachts alles träume.


Das Mädchen sieht mich an. Ich fühle mich ertappt und befreie achtlos den gelähmten Arm aus der Schlinge. Meine ganze Haltung verändert sich, ich reiße mich förmlich zusammen und suche nach passenden Formulierungen, das begonnene Gespräch harmlos zu gestalten. Das Mädchen aber ist maßlos über meine plötzliche körperliche Unversehrtheit erschrocken. Sie steigt auch bald aus, ich hinterher. Ich verfolge sie noch über einige Straßenzüge und schließlich Feldwege, dann ist sie in einem Hauseingang verschwunden.


Es ist bereits nach Mitternacht, die Gegend ist öde und furchtbar weit außerhalb, sicher sind wir nicht mehr in München Ich setze mich vor dem Haus des Mädchens. auf den Boden . Die Temperatur ist sicher wieder, wie schon im Winter, unter den Gefrierpunkt gesunken. Ich schlottere, zähle bis 25. Sicher sitzt sie hinter dem Fenster, sieht mich auf dem Boden sitzen und hat Mitleid. Dann ist mir dermaßen kalt, daß ich aufspringe und hin- und herhüpfe. Wie trostlos die Gegend ist. Aufgerissene Straßen, graue Betonpisten, Kasernen, nirgendwo ein Lebewesen.


Ich verschwinde, erreiche die Busstation, wo bereits eine schemenhafte andere Person steht, mit Sozialarbeiterjacke, Knopfaugen und viel Phlegma. Ich finde eine Zeitung, die ich schon kenne, lese sie trotzdem , einen Artikel über Schmidt und Carter, dann kommt der Bus und nach einigen Umwegen erreiche ich gegen 0.45 mein Appartement. Ich klingle bei Richard, lade ihn zum Espresso ein.

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