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Das Fritz Brinkmann Buch 20

20. Kapitel

12. Oktober 1977

Einen ganzen Tag lang fuhr ich U-Bahn, änderte ein ums andere mal mein Ziel, schon die Ahnung eines blonden Mädchenhinterkopfes ließ mich die Bahn wechseln. Wie ein Betrunkener, Frischverliebter oder Selbstmörder nahm ich Kontakt zu fremden Menschen auf. Mit drei Jugendlichen fuhr ich eine Stunde lang bis nach Barmbek, ein Mädchen wollte ich gerade zum Tee einladen, als ich von einem Kontrolleur erwischt wurde und aussteigen mußte. Das Mädchen, proletarisch aber vulgär - sie hatte regelrechte Lachanfälle, die sie nicht stoppen konnte, sah mir sehnsuchtsvoll nach und ich ärgerte mich grün und blau.


Wie toll hätte ich die Situation meistern können, kurz die von Hundertmarkscheinen aufquellende Brieftasche geöffnet, Zwanziger dem Beamten vor die Füße geworfen und weitergefahren, so wäre es richtig gewesen, und die Bekanntschaft mit dem Mädchen wäre hergestellt gewesen. Gut.


Schließlich, über lange Umwege, zweimal hatte ich mich in Steilshoop und in Fuhlsbüttel verlaufen, landete ich gegen Mitternacht im Seekamp. Alles, was darüber zu sagen ist, steht in einem Brief an Annerose.


Die nächste Nacht schlief ich bei Karin, die übernächste bei Angela. Ich genieße ein Glücksgefühl, seitdem ich nicht mehr in der Wrangelstraße bin.


Heute, ich ließ mich wie jetzt immer treiben, genügte ein winziger Blick auf ein junges Mädchen, das an der Ampel wartete, und ich parkte den Vagen rechtswidrig am Fahrbahnrand und stieg dem Mädchen hinterher. Großer weißer Schlabberpullover, Schlabberhosen, die um die wohl sehr schlanken Beine schlabberten, Stiefel, die ausgetreten waren. Sie hatte eine gerade Haltung, ging schnell und zielbewußt, warf aber ihre Hand lässig nach hinten und wirkte locker. Ich hatte Mühe, ihr zu folgen. Dann hatte sie mich gesehen, und ich ging in ein Geschäft, in den Mescal-Laden, um nicht aufzufallen. Sie tat dasselbe, ich sah sie jetzt genauer, sie war nicht hübsch. Okay, gestorben, dachte ich zuerst, danm aber: egal, sie ist ja blutjung, vielleicht 13, das ist auf jeden Fall amüsant. Und schon mochte ich sie wieder.


Ich tapste im Laden hin und her, die Verkäuferin sah mich warmherzig an, als hätte sie Verständnis für mich. Das Mädchen hatte Schminksachen in der Hand.


"Man darf alles, nichts ist direkt und offen genug", dachte ich, während ich zuerst auf das Schminkregal zuging, mich sozusagen näherte, dann wie unschuldig mit den Dingern spielte, dann das Fläschchen in die Hand nahm, das sie gerade angefaßt hatte, mich dann mit dem Körper zu ihr drehte und mit ihr sprach, als wären wir schon lange befreundet.


"Gut, nicht", sagte ich, und sie nickte, sagte dann wie abwesend "Ja, das Blau für die Augen, das ist normal." Sie erklärte noch ein bißchen das kleine Schmink-Set, das ich in der Hand hatte. Ich konnte mich auf kein einziges Wort konzentrieren, ich sagte nur "Ja, ja" oder "So, so, für die Augen, und das da auch?" (obwohl sie "das da" gerade erklärt hatte). Ich kaufte das Zeug, nur um zu zeigen, daß es mir ernst gewesen war, und ging aus dem Laden. Pust!

Ich ging zum Bäcker gegenüber, kaufte Marzipankuchen und aß ihn, um mich zu beruhigen. Nach fünf Minuten kam sie aus dem Laden, und ich folgte ihr wieder. Sie ging nun in eine zweite Boutique. Ich ging in Richtung Abatinn, dachte, sie schon noch wiederzutreffen, bekam dann aber Angst.


Ich rannte zurück, es waren schon fünfzehn Minuten vergangen. Die zweite Boutique schien leer zu sein, da kam sie aus der Umkleidekabine. Wieder tapste ich hin und her. Dann hatte ich eine Idee. Ich suchte ein Kleid aus, tippte dem Mädchen auf die Schulter und sagte: "Hast du wohl Größe 38?" "Ja", sagte sie sofort und sachlich und begann auf der Stelle, das Kleid anzuziehen. Die Verkäuferin kam dazu. Die Umkleidekabine hatte die Form einer Saloon-Schwingtür, so daß ich Füße und Kopf sah. Sie zog sich die Stiefel aus, ich sah ihre hantieren-den Hände, sie waren so schön wie im Gedicht. Ja, wie wichtig die Hände sind, und wie ich das vergessen hatte!


Sie kam raus, das Kleid saß nicht, bis zur Hüfte schon, aber dann fehlte dem Mädchen ein Stück Oberkörper. Ohne Stiefel war sie nur 1 Meter 65. Sie gab darüber Auskunft, erklärte auch Vor- und Nachteile des Kleides. Wohl weil ich sie ent-sprechend anschaute und immer Fragen stellte, erklärte sie alles wesentliche dieser Art von Kleidern, worauf ich zu achten habe, was geschmacklos sei und was zueinander passe.


Sie tat das ohne Wichtigtuerei oder Spielerei, es war reine, unschuldige Hilfsbereitschaft, und es war wohltuend klug und durchdacht. Daß ihr mit ihren dreizehn Jahren noch ein Stück Oberkörper fehlte, war in keiner Weise schlimm, sie selbst fand es völlig selbstverständlich, mit dreizehn so auszusehen. Leider war ich erneut zu durcheinander, um auf ihre Worte richtig zu achten, ich stellte Fragen, die schon beantwortet waren und kaufte schließlich eine Jacke, die sie empfohlen hatte, nach meinem Drängen, sie solle etwas empfehlen, und ich verabschiedete mich wieder. Pust. Was nun?


Das Mädchen war hinreißend, ein Engel, der klügste, vernünftig-ste, wohltuendste Mensch, den ich je kennengelernt hatte, nicht verlogen, nicht verdorben, nicht durch Wiederholungen relativiert. Ich war verliebt, aber was tun? Sie zu Anneroses Geburtstag einladen. Ihr das Schmink-Set schenken. Sie zum Tee einladen.


Da kam sie aus dem Laden, ich ging auf sie zu, und damit hatte ich die Grenze überschritten, nun war es keine Unverbindlichkeit mehr, ich hatte mich entlarvt. Sie sah das sicher nicht gern. Jetzt wurde sie unsicher. Sie kam zwar mit und besuchte mit mir eine dritte Boutique, aber wohl nur, um sich erstmal von dem Schrecken zu erholen. Sie verabschiedete sich, ich tat freundlich und einverstanden, aber kaum war sie draußen, bekam ich einen roten Kopf und sehr starkes Herzklopfen. So, als wäre das Herz tatsächlich Zentrum der Gefühlswelt, begann es wehzutun, wurde es schwer, jedenfalls kam es mir so vor. Im Grunde war es eine Erfahrung von dieser Welt, diesem Tag, die mich ganz und gar erfaßte. Eine Decke riß auf und ich hatte Mühe, wieder normal zu werden. Was für eine Gücksmöglichkeit lag in diesem Mädchen, und was für ein Elend jetzt.


Glück, Sinn, Seligkeit, nicht nach dem Tod, sondern jetzt. Mir war, als hätte ich für wenige Sekunden an Jesus Christus geglaubt und müsse diese Erfahrung erst wieder verdrängen. Wäre ich jetzt an einem Pulk laut schwatzender Studentinnen vorbeigekommen, hätte ich vor Elend aufgeschluchzt.


Ich erreichte das Auto, fuhr hin und her. Ein Demonstrationszug kam vorbei, ich ließ das Auto stehen und ging mit. Ich wußte bis fast zum Schluß nicht, worum es ging, und des machte mich zufrieden. Ich demonstrierte einfach. Ich drängelte mich bis in die vorderste Reihe durch, bis ich nur noch den Peter-wagen vor mir hatte, also den Kolonnenführer, der den Verkehr absperrte. Ich hörte den Polizeifunk und die Parolen der Genossen und beides zusammen, vor allem der langsam fahrende, Vorfahrt gebende Peterwagen löste in mir Gefühle größten Wohlbehagens und tiefster Menschenliebe aus. Dieser Liebe Statt!


Irgendwann mochte ich nicht mehr und fuhr mit dem Taxi zurück. Am Ende sah ich "Der gute Mensch von Sezuan", geriet in Theaterbesessenheit, paßte die Hauptdarstellerin in der Pause ab und sah ihr in die Augen. 36 Mark zahlte ich für meinen Platz, Balkonloge 1, Sitz 1. Die Hauptdarstellerin, Andrea Jonasson, machte großen Eindruck auf mich. Vas für eine Frau, was für ein Geschöpf, diese Bewegungen, diese Stimme, diese Millionen Impulse, die während der vier Stunden vcn ihr, von ihrem Körper ausgegangen waren, dagegen wirkten die anderen Schauspieler wie Holzpuppen.


Plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf Gurken, auf NUR natürliche Mädchen, nun wollte ich diese Schauspielerin. Ich wartete am Künstlereingang, aber sie kam mit einem Mann heraus, unterhielt sich lachend, und ich traute mich nicht zu stören.



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