22. Kapitel
16. Oktober 1977
Weiter die Geschichte von meiner Transplantation in eine fremde Welt (wird mich das fremde Gewebe abstoßen?).
Also: Maria und ich saßen in der Küche, ich hatte gerade die letzten Seiten geschrieben. Ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte. Viel Geduld hatte ich nicht, schon bald griff ich zu den Seiten und zeigte sie ihr (während ich dies schreibe, sitze ich im ersten Stock des Seekamp, unten spielt Ton Steine Scherben, das Telefon klingelt, Leute, die gerade erst aufgewacht sind, begrüßen sich mit großem Hallo) (ich selbst bin in einem Zustand, daß ich „mir“ und „mich“ nicht unterscheiden kann) (für jeden Satz brauche ich zehn Minuten).
Also: Maria las die Seiten, während ich die dritte Kanne Kaffee machte. Sehr günstig war das, was sie da las, nicht für mich, aber es erzeugte wenigstens Spannung. Maria fragte andeutungsweise, ob ich mit ihr etwas vorhätte. Ich lenkte ab, denn die dritte Kanne Kaffee bekam mir nicht, mein Herz wurde „zu einer alten Wasserpumpe“.
Nach einiger Zeit zog ich mich in ein Zimmer zurück, setzte mich dort auf den Ofen und versuchte, erstmal ruhig zu werden. Marc war inzwischen gekommen. Ich mußte wohl auf Maria warten, denn nur mit ihr ließ sich das Abenteuerleben fortsetzen, Angela war sehr kühl gegen mich gewesen, Simone mußte ich sicherlich auch abschreiben, von den anderen ganz zu schweigen. Meine Fähigkeit, mich in der Seekampwelt aufzuhalten, stand und fiel mit dem Bezug zu einem Mitglied davon. Ich wartete.
Neben mir stand ein Telefon, und ich rief Diedrich an. Dieser wollte sofort kommen, er langweilte sich und wollte etwas erleben (eben höre ich, wie jemand mit meinem Auto wegfährt).
Ich ging wieder zur Küche, Marcs Anwesenheit munterte mich auf, das Herzpumpen wurde weniger. Der Abend konnte beginnen.
Mit Maria sollte ich auch nicht am späten Nachmittag zu reden beginnen, wenn ich etwas von ihr wollte, ich meine, ich wollte nur dann mit jemandem zu reden beginnen, wenn ich REDEN WILL. Ich wollte Maria noch zuflüstern, daß sie Angela nicht verraten sollte, und ich winkte sie heran, holte sie raus aus der Küche.
„Ich wollte dir noch etwas sagen“, begann ich, und ihr Gesicht begann so zu leuchten, daß ich umdisponieren mußte. Sie erwartete etwas Intimes, da durfte ich nicht Prosaisch sein. Doch der Aufbruch kam dazwischen, zum Glück. Marc, Maria, Diedrich, Hans und ich fuhren in eine Bauerndiskothek nach Bad Segeberg. Im zweiten, in meinem Auto folgten Strucki, Christoph Mayer, Klaus Trinker, Ulf Henning und noch zwei Typen. Unser Auto mußte alle zwei Minuten angeschoben werden, die Stimmung stieg, Diedrichs Anwesenheit wirkte auf mich äußerst wohltuend. Ich fühlte wieder die „typische“ Lojozeit. Marcuse, Seekamp, Diedrich, Mädchen, also Winter 76/76. (Eben kam Ulf und brachte mir ein komplettes Frühstück.) Marc gab einen Joint durch, der entweder ganz toll war oder aber durch meine gute Laune gut wurde. Die gute Laune wiederum kam durch Diedrich.
Ich hatte auch wieder Autorität. Bei allen Entscheidungen sprach sich Marc mit mir ab.
Wir machten Zwischenstation im Seekamp. Diedrich und ich gingen ins Gartenhäuschen und redeten aufgeregt, wobei wir im Raum hin-und hergingen. Es war wieder wie zur Zeit der..., wie damals als..., wie im Jahre sowieso. Diedrich hatte alle Personen und Situationen schnellstens analysiert und abgewertet. Er wollte wieder nach Hause, er kenne das Milieu, er habe selbst darin gelebt. Begleitend zu diesen Worten hörte man von der Seekampküche her lautes Selbstarstellungsgeschrei. In unerträglicher Nervensäge-Art ließ AAO-Manfred Pipifax-Komplexe ab. Hans steckte seinen Kopf herein, Diedrich ballte die Hände und meinte: „Dieses Gesicht ist das Gesicht eines Kretins, es gibt nichts, was einem zu diesem Gesicht einfallen kann als das Wort Kretin!“.
Nur Marc fand er gut. „Marc ist wirklich gut, alles andere Schwachsinn.“
Als wir dann in der Bauerndiskothek waren, wurde Diedrichs Ekel allerdings noch um ein Vielfaches größer. (Eben eine tolle Szene: das Telefon klingelt, jemand rennt, nachdem es 22mal geklingelt hat, hin und fällt laut krachend die Treppe runter.) Gut, also im Seekamp konnte ich Diedrich immer noch entgegenhalten, daß sein eigenes Leben langweiliger ist als dies hier. Aber in der Diskothek war es wohl klar, daß er recht hatte. Diedrich und ich standen am Rand der Tanzfläche und wiesen uns gegenseitig auf besonders schwachsinnige Exemplare hin. Diedrichs Gesicht wurde immer verkniffener, ab und zu verzog er den Mund und drehte sich für kurze Zeit um. Vor uns tanzte gerade ein besonders ekliger Typ, mit Schnauzbart und Jeansanzug, und ich bot Diedrich zehn Mark, wenn er ihn zehn Minuten lang ansehen könnte. Diedrich mußte abbrechen.
Endlich begann Diedrich, seine Antipathien zu begründen. Doch leider war ich noch oder schon zu „voll“, um ihn zu verstehen. (Eben kam Angela herein, gleich macht sie mir einen Kaffee.) Diedrich sagte etwas von Halbwahrheiten und daß die Erlebnisintensität bei allen Menschen gleich sei, daß es darauf also nicht ankomme. „Ich will Geist, und den solltest du auch wollen.“
Okay, gegen drei Uhr machte die Disco zu, und wir fuhren nach Hamburg zurück. Ich fuhr alle nach Hause, verabschiedete mich von Diedrich und fuhr allein in den Seekamp. Dort erwartete ich Maria, zu der ich, als sie ins Marc-Auto stieg (ich fuhr diesmal selbst) gesagt hatte, ich würde kommen. Doch nicht Maria war da, sondern Simone. Sie lag im Wintergarten und wachte auf, als ich den Kopf hineinsteckte. Sie streichelte und küßte mich, und ich sagte irgendetwas Beruhigendes zu ihr, dann ging ich in die Küche und wartete auf Maria, die noch immer mit dem anderen Auto unterwegs war.
Simone kam mir in die Küche nach. Ich war ja an sich sehr guter Stimmung, ich meine, der Abend war doch sehr schön für mich gewesen. Die allerbesten Erinnerungen nahmen Gestalt an, diese Mischung aus Abenteuer und Sicherheit, also äußerlicher Bewegtheit und innerlicher Anerkennung. "Existentielle Erlebnisse waren bei dir immer auf der Basis stahlhart gesicherter menschlicher Bindungen möglich“, sagte mir mal ein Marxist und meinte es kritisch. Diedrich, der ohne Nici neben mir im Auto saß und fremd war in der Szene, also auf mich angewiesen war, vermittelte, fern in Bad Segeberg, zwischen Mitternacht und frühem Morgen, zwischen Utopen, Bauern, Kauzen und Gnomen diese Empfindung.
Also ich war frohgemut, wenn auch müde und bekifft, als Simone in die Küche kam. Sie erzählte vom Boxen und was sie sonst noch gemacht hatte, ich tat dasselbe, es ging sehr gut. Dann holte ich dieses Tagebuchding und gab es ihr zu lesen. Wie so oft war das ein Gewinn. Ich fühlte mich ausgedrückt, und sie fand es heiter und war guter Dinge. Ich glaube, daß wir uns gerade küßten, als Marc, Maria und die anderen kamen. Es gab ein anerkennendes "Seht, seht,“ alle außer Maria gaben solche "Oho!"-Laute von sich. Simone dachte nämlich nicht daran, mich loszulassen. Die Leute erzählten ein bißchen von der Autofahrt und gingen dann.
Maria gab mir einen kurzen ernsten Blick, der bedeuten sollte, daß sie nicht für dumm gehalten werden wollte. Simone begann noch ein bißchen mit Hans zu reden, und ich ging währenddessen ins Bett. Simone kam bald nach. Tatsächlich, wie ich es schon ahnte, ging es nicht wohlwollend-väterlich von sich, sondern wir kamen in ein wildes Gerangel, so daß Manfred, der AAO-Mensch, der als Dritter im Bett lag, wütend aufstand. Er, der vorher mit Simone geschlafen hatte, war geschockt und ist es noch heute. Mein erster Feind im Seekamp.
Nach dem Gerangel erzählten wir uns alles mögliche, über Faschismus, über Angst, und ich lernte Simone näher kennen. Sie will keine Verhaltensweisen, die sich nicht nach der Situation richten - das wäre nämlich in ihren Augen faschistisch. Ich bin da ganz auf ihrer Linie, hier beginnen die Gemeinsamkeiten. Wo es Trennendes gibt, weiß ich im Momemt nicht. Sie sieht es als Schwäche an, alle Menschen, näher kennengelernt, zu verstehen und gut zu finden. Niemand ist so konsequent frei von Projektionen wie sie. „Eigentlich ist sie das“, vorauf ich immer abfahre, wofür auch meine handkeschen Verstörungen und phasenweisen fragmentarischen Verrückungen sprechen. Aber ich glaube nicht daran. Ich muß mal Diedrich fragen.
Simone und ich machten die Nacht durch. Dann frühstückten wir mit den anderen. Sibyll („die Nackte“), Ditta "die rothaarige Fix-und-Foxi- und vor allem Pauli-Person“ und Stephan („der Schüler“) waren dabei und platzten vor Ulk und guter Morgenlaune. Diese Stimmung ist häufig im Seekamp, auch fällt auf, daß die Leute alle singen: Abba und Ton Steine Scherben und Volks- und Weihnachtslieder. Das spricht doch dafür, daß es den Leuten gut geht, daß also der Seekamp eine gute und erfolgreiche Institution ist. Ich möchte die These aufstellen, daß hier mehr Freiheit verwirklicht ist als anderswo, und ich glaube, eine Auseinandersetzung bliebe mir nicht erspart, wenn ich mich wieder abwenden wollte, also so leicht wie Diedrich kann ich es mir nicht machen.
Wir fuhren die Mädchen an die Autobahn. Sibyll gefiel mir sehr gut, ihre sexuelle Überausstrahlung erlebte ich als kreative, lustvolle Sache. Dann steuerte Stephan, der Schüler, das Auto, ich saß hinten und plapperte munter drauflos. Immerhin hatten Simone und ich eine ganze Nacht zusammen verbracht und durchgeredet, man sollte meinen, daß wir nun keine Scheu mehr voreinander hätten.
Dann spazierten wir über den Flohmarkt. Simone faßte mich immer an, was mich bereits wieder wunderte, denn nun schlug es bei mir wieder um, der Handke machte sich bemerkbar. Wir trafen Angela und Holger, dann gingen wir in die Fischmarktkneipe und trafen ein überraschend kleines, etwa vierzehnjähriges Mädchen namens Babette.
Ich war guter Dinge, balancierte virtuos ein Bier durch den Raum, bestellte für das Mädchen einen Tee, las Simone eine Erklärung der RAF vor, rauchte eine Zigarette. Doch dann... stülpte die Frage „Was nun?“ bzw. die Ungewißheit „Was passiert aber, wenn ich Simone am Flohmarkt nicht loswerde?“ alles in mir um. Ich hatte alles laufen lassen, mir gedacht, es würde sich schon ergeben, doch jetzt konnte sich nichts mehr ergeben. Simone und ich waren so sehr befreundet, daß wir uns die nächsten 48 Stunden nicht von selbst trennen konnten. Ich ging aufs Klo und dachte verzweifelt nach. Nichts kam.
Ich entschloß mich zur Flucht nach vorn, gestand Simone, einen "Schwächeanfall“ zu haben. Was sollte das arme Mädchen schon machen. Sie ging mit mir um den Block und versuchte alle möglichen homöopathischen und mystischen Tricks, um mich wach zu kriegen. Etwa dreißig Sekunden lang half es. Gut gelaunt und jovial wie Prof. Hillmann trat ich erneut in die Fischmarktkneipe. Wenig später klappte ich wieder zusammen, Simone und ich gingen zum zweitenmal raus, zum Telefonieren.
„Wir sollten sofort losfahren“, sagte ich kleinlaut. Also fuhren wir. Stephan fuhr mit. Wir setzten ihn in der Kaffeestube ab. Ich versuchte mit aller Kraft, so bedrückt auszusehen, wie ich mich fühlte, die Bedrückung zu SPIELEN, um sie handhabbar zu machen, doch es gelang nicht. Sobald mich Simone ansah, lächelte ich gequält.
Als dann Stephan draußen war, begann der letzte Kampf. Simone gefiel mir eigentlich sehr gut, sie sah toll aus und machte einen fröhlichen und selbständigen Eindruck. Jeder kannte sie, jeder wechselte aufgeräumt einige Worte mit ihr. Aber ich? Keine Reserven mehr, sprachlos geworden, verhaltensunfähig geworden. „Sei du selbst“, hätte man mir zurufen können, und es hätte nichts genutzt. Ich konnte nichts mehr „SEIN“. Was hatte ich nur?
Die Minuten, in denen ich stumm neben dem Schüler Stephan zum Auto watschte, waren die einzige Regeneration innerhalb der letzten zwanzig Stunden gewesen. Simone, obwohl frei Und zwanglos wie niemand sonst, kostete mich dieselben Energien wie andere Mädchen, die mir nahekamen. Wir fuhren zu ihren Eltern (was wieder ihre Idee war - sie ist ideenvoll und aktiv, man muß sich keine Sorgen um den Tagesablauf machen... wenn nicht dieses Regenerationsbedürfnis wäre), kamen vorher an der Wrangelstraße vorbei, wo ich Geld holte. Simone kam mit rauf, Annerose machte auf, ich schreckte einen Schritt zurück.
Natürlich war die Szene ein innerlicher Triumph für mich. Annerose war froh und freundlich, wahrscheinlich war sie sehr erleichtert, andererseits aber auch eifersüchtig. Sie hielt mich in der Tür fest, und ich dachte, sie wird mir wieder Schaden zufügen. Ich nahm einen schweren Holzbügel und schlug mir damit auf die Handfläche. Daraufhin ließ sie mich los.
Tja, es ging den ganzen Tag so weiter, d.h. beim Chinesisch-essen und beim Simonevater. (Übrigens scheint das völlige Nachlassen literarischer Fähigkeiten, des Stils, ein Argument gegen den Seekamp zu sein; schließlich waren viele Situationen pikant, heikel, niederschreibenswert.)
Das Essen brachte fast die Katastrophe, ich meine, ich stürzte schon nach zehn Minuten aus dem Lokal, ließ das halbe Essen und den Nachtisch stehen. Wäre ich geblieben, wäre ich vielleicht psychisch umgekippt und es hätte besser werden können. Insgeheim dachte ich an sowas, so daß ich auch darauf bestand, erst abends schlafen zu gehen. Aber - seltsamerweise - kam es nicht dazu. Sobald ich nur konnte, ausgelöst meinetwegen durch einen kurzen originellen Gedanken, lächelte ich Simone an, war gut und stark zu ihr, machte ihr Komplimente. Sie sagte auch ganz richtig, sie wüßte nicht, wie man sich mit mir streitet. Vielleicht verhielt sie sich auch selbst so, so unbeholfen und „verlogen“, jedenfalls schienen mir manche späten Zuneigungen durch die Situation widerlegt.
Beim Vater war Simone flapsiger als sonst, vielleicht war das ihre Art von Sicherheit, aber ich glaube, etwas bedrückte sie.
Die Badewannenszene: Lautes Nebengeräusch (heftige Brause, blubbernder Ofen), hallende Stimme, ständig sprechend, in flapsiger, überzogen selbstverständlicher Art („echt“, „natürlich“, „modern“ heißt das im jungen deutschen Film), ständig etwas verrichtend (Haare bespritzen), dabei aber den Fehler begehen, diese Tätigkeit viel zu lange zu verrichten, lange Einstellung. NACH dieser Szene machte Simone einen Problematisierungsversuch. Sie merke, wie sie sich von mir entferne. Ich blickte nur unendlich traurig und legte den müden Kopf auf die Sofalehne, schnell rutschte sie zu mir und fing ihn auf. War ja nicht so gemeint, bedeutete diese Geste. Dann ging sie ins Wohnzimmer und sah einen drei-Minuten-Kurzfilm. Ich ging wieder weg und fühlte mich wohl, traf Simone in der Küche, fühlte mich wieder hampelig und unwichtig. Eigentlich... war es so wie bei der Venedigfahrt mit Maria und Julika. Ich sollte... in der Personenwahl die Flexibilität bewahren.