30. Kapitel
1. November 1977
Ich hatte Telse, Kerrin und Kelle im Seminar getroffen und war mit Telse zu ihrer Wohnung gefahren. "Eine leichte Sache", dachte ich. Ich würde mich schon in keine verkrampften Gespräche einlassen. Tatsächlich bewegte ich mich zunächst in der fremden Wohnung "wie zu Hause", telefonierte mit Diedrich, Nici und Sylvana, machte Abendbrot, rochierte zwischen den Zimmern. Dann aber saß ich doch Telse von Angesicht zu Angesicht gegenüber und meine heiter-gelöste Haltung schmolz von Minute zu Minute mehr dahin. Telse war nicht verkrampft, aber doch gänzlich unfähig, irgend etwas Lustiges zu erzählen. Bald waren wir in einem bierernsten Frage-Antwort-Spiel, das etwa so ging:
"Und es macht dir nichts aus, allein zu wohnen?"
"Doch, sehr."
"Und du gehst abends nicht weg?"
"Nein, das tue ich nicht."
"Weil du das sinnlos findest, irgendwie leer und absurd?"
"Ja, so ist es."
"Und dich in der Wohnung selbst beschäftigen, das kannst du auch nicht so richtig?"
"Ich versuche es, aber... ich bin nicht kreativ, es gelingt mir nicht."
"Du hast kein Medium, dich auszudrücken?"
"Nein. Früher schrieb ich Tagebuch, aber da war ich nicht ehrlich."
"Nicht ehrlich dir selbst gegenüber?"
"Genau."
"Also findest du dein Leben oft sinnlos und siehst keinen Grund, morgens aufzustehen?"
"Ja, ja."
Undsoweiter.
Das Telefon klingelte, Telse ging ran. Gottseidank! Ich lehnte mich zurück. Rettung in letzter Minute. Doch das Gespräch war für Kerrin, die gerufen wurde und den Hörer übernahm.
Telse setzte sich wieder zu mir. Ich zündete mir eine zweite Zigarette an, zusätzlich zur noch brennenden ersten. Kerrin rief ihren Freund und übergab ihm den Hörer, dann setzte sie sich zu uns und begann, mit Telse zu reden.
Ich drehte mich aus meinem Sessel, robbte zum Bücherregal und tat so, als sähe ich mir die Titel an. Dann stand ich unbemerkt auf und ging auf die Toilette. Kurz verschnaufen.
Als ich zurückkam, saß auch der Freund mit am Tisch, wir waren zu viert. Der Freund war harmlos und gutmütig, er sah mich freundlich-aufmerksam an.
"Er darf nicht weggehen:" dachte ich und zog ihn in ein Gespräch. Ich mußte mich extensiv in eine "heiße" Diskussion mit ihm werfen, mich freireden und somit meine Souveränität der Situation gegenüber zurückerlangen.
Der Freund erwies sich als fehlerfreier Denker und exzellenter Gesprächspartner. Auch Kerrin schaltete sich immer öfter ein und wurde aggressiv dabei, was mir sehr gefiel. Telse saß mit rotem Kopf dabei. Sie verstand als einzige, was ich wirklich meinte, war dadurch aber unfähig, einen Gegenstandpunkt zu vertreten.
Es ging darum, daß ich seit vierzehn Tagen jede Nacht mit einer anderen Frau schlafe. Eine Sache, die überhaupt nicht zu mir paßt und mich menschlich zu 110 Prozent fordert. Ich setze mich fremden Menschen aus, und das Miteinanderschlafen ist nur der rote Faden dabei. Kerrin bestand darauf, daß nicht ich mich anderen Menschen aussetze, sondern umgekehrt, daß ich verantwortungslos handele und ein männliches Schwein sei. Nie mehr wollte sie mit Männern zusammensein: Nur vor ihrem Freund, der sie kindisch-hilflos ansah, sei sie sich noch sicher.
Das alles ging bis halb fünf Uhr morgens, und es wiederholte sich kaum. Ich dachte auch nicht daran aufzuhören, weil die Situation: Ich gegen drei, eine stets erhoffte Lojosituation war.
Natürlich war meine Position die richtige: Nicht Waldläufe und Kneipp-Kuren unternahm ich, um Existenzängste zu kompensieren, sondern ich begab mich in Situationen, die eine Eigenbewegung hatten und eine Dialektik Ich/Welt überhaupt erst möglich machten. Das Recht, andere dieser Dialektik auszuliefern wie mich selbst, hatte ich allemal: bin ich doch wie sie ein gesellschaftlichen Wesen, daß die Wirkung auf andere niemals weder ausschließen noch auf Güte hin selektieren kann. Erfahrungen, die andere durch mich machen, können keine nur guten sein, sie können nur mehr oder weniger intensive sein, und so gesehen ist es auf jeden Fall besser, ihnen intensive zu vermitteln als gar keine.
Mich jedenfalls gibt es, ich bin von dieser Welt gemacht, und wenn ich mich den anderen aussetze, erfahren sie etwas über diese Welt. Große Worte!
Es ging hoch her, Kerrin bekräftigte noch einmal, nie wieder Männern trauen zu können, der Freund schlug vor, doch zusammenzuziehen, ich schlug vor, zusammen nach Dänemark zu fahren, wobei Kerrin mit glänzenden Augen ja, ja rief. Telse saß mit rotem Kopf da und bekam die Zahl 15 nicht aus dem Hirn.
Dann machte sie mir das Bett, es stand rechts neben ihrem. Ich sagte, noch etwas schreiben zu wollen, sah mir mein Bett an und meinte:
"Oh, ich bin so vergeßlich, hoffentlich finde ich das richtige Bett nachher, das rechte also ist es, ja?"
Ich fand dann das linke.