33. Kapitel
6. November 1977
Angela, Corinna, Corinnafreund und ich im Nolde-Museum, in der Nolde-Caféteria. Niemand sagt etwas, doch nur mir ist es peinlich. „Habt ihr keine Kinder?“ frage ich, bekomme die übliche Antwort: keine Kinder in diese kaputte Gesellschaft. Die Terroristenhetze! "Wenn ich das Radio anstelle, und jedes zweite Wort geht über diese Terroristenhetze, diesen ganzen Rummel, diesen Blödsinn'. sagt der Corinnafreund. Er kommt in Fahrt. Ich denke: die Terroristenszene war für mich so interessant, daß ich wieder, wie ganz früher, engagiert alle Medien benutzte.
Ich denke an Fritz Brinckmann, wie ähnlich er sich jetzt fühlen würde. Ich glaube, Fritz muß nach Hamburg. Der Corinnafreund erzählt von irgendwelchen fortschrittlichen Erziehungspraktiken in Frankfurt, die die CDU rückgängig gemacht habe. Da, wo vorher milieugeschädigte Kinder behandelt wurden, steht jetzt ein Experimentierraum für avantgardistisches Theater.
Er ist betrunken, stellt mir freundlich ein Einbecker Urbock vor die Nase. Natürlich trägt er Latzhose und Rundumbart, aber das stört mich gar nicht mehr. Im Grunde mag ich den TYP, nur würde das, was er sagt, Diedrich wie Fritz zum Schreien bringen. Manchmal denke ich: Sieh bloß, der meint das WIRKLICH!
Kostproben: "Wenn ihr alle Kaffee trinkt, trinke ich Tee, um mich abzuheben, haha, von der Masse abzuheben.“ Und da gibts so'ne alte Frau, so'ne Oma, die is dufte, die hat hier überall Bekannte, die sie besucht und mit denen sie snackt, so richtig gemütlich einen ausklönt.“ Scheiße, mir fallen keine weiteren Beispiele ein, das ärgert mich! Ich hatte mir noch 35 extra gemerkt, dann aber ging die Pfeife rum und ich baute ab.
Ich ging zu Angela, die auf einem engen Sofa lag, und ging, wie Michel Piccoli in „Themroc“ mit meinen Augen ganz nah an ihren Körper ran, in zehn Zentimeter Abstand überquerte ich alles Sehenswerte. Dann dachte ich: Warum eigentlich kein Skandal? Schlagen soll sie mich, laut pöbeln, das Haue aufwecken und meine trüben Geister dazu. Ich begann, sie anzufassen, sie zu befummeln und zu befingern... nichts geschah.
34. Kapitel
11. November 1977
Mal was Neues: Ich besuchte ein häßliches, aber temperamentvoll-intelligentes Mädchen, Juana. Und es passierte etwas Bestürzendes: trotz oder sogar wegen ihrer Intelligenz verurteilte sie mich. Nach vierstündiger Redeschlacht meinte sie, ich sei infantil. Sie verkehre nur mit Leuten, die zehn Jahre älter seien als ich. Irgendwann werde auch ich einsehen müssen, daß man nur mit absoluter Ehrlichkeit und vernünftigem, zivilisierten Verhalten weiterkommt. Eine Zweierbeziehung, wie jede Beziehung, beruhe auf einem Konsens, und wer den breche, zerbreche die Beziehung. Sie lächelte, als ich von Spannung, Unsicherheit, Suspense, permanenter Revolte (auch innerhalb der Beziehung gegen Verfestigungen, Konsens, Erstarrungen) sprach, aber was setzte sie dagegen? Offenbar ist sie jemand, der sich mit Walter Benjamin, alten Jugendfreunden, den jüdischen Eltern, Theater und Ballett ein ausgefülltes Leben schaffen kann und mit Freunden nichts weiter im Sinn hat als…?
Wieder glaube ich fast, ich mache mir was vor: Will nicht auch ich EIGENTLICH Harmonie, Vertrauen, Ruhe, Güte, Ehrlichkeit, Toleranz? Tagsüber den Acker bestellen und abends die Suppe löffeln und ein gutes Buch lesen? Mit der Frau zusammen schlafengehen, das Licht löschen und im Dunkeln ein Gespräch führen, etwa:
„S'ist jetzt noch zwei Jahr', dann ist der Große so weit, daß er aus dem Haus kann, dann geben wir ihn zum alten Marrer, in die Stadt.. .Ja, da wird er ein gutes Handwerk lernen.“
"Ja, das mein' ich auch, Hannili. Aber jetzt schlaf und vergiß morgen nicht, daß der Pfarrer den Käs bekommen soll.. .Behüt dich Gott, Lojo, und schlaf jetzt.“
Ist's nicht DAS, was ich EIGENTLICH will? Natürlich, bei soviel Mühe, Arbeit, Stress, erscheint (und ist) die Zweierbeziehung der geometrische Ort aller Positivismen des Menschen. Ich aber, der ich keine Mühe und Arbeit kenne, lege Gut und Böse, Ruhe und Spannung, Liebe und Haß, eben alle Antagonismen in die Zweierbeziehung hinein. Oder konkret: Wenn ich mich im Laufe von vier Stunden Annerose nicht mindestens einmal sehr gestritten und sehr versöhnt habe, langweile ich mich. Was um Himmels Willen passiert, wenn man sich an den Konsens hält?
"Liebe ist die größte Nähe der Ferne." Sagt Juana. Würde ich diese Ferne zerstören wollen, indem ich den Konsens breche und in ihren Intimbereich eindringe, indem ich z.B. ihre Post öffne und ihr Geld nehme, würde sie die Beziehung abbrechen.
Mit Dürten, die ich ebenfalls gestern traf, war es ähnlich. Sechzig Minuten lang versuchte sie mir klarzumachen, daß sie ohne Vertrauen kein Verhältnis zu mir... usw. Was ist das alles für ein Quatsch, was sind das alles für Krüppel, trauen die sich denn gar nichts zu? Doch bei Dürten ist es mir psychologisch einsehbar, nicht aber bei Juana. Die nämlich hatte Vertrauen zu mir, lehnte mich aus anderen Gründen ab, aus moralischen, so wie Kelle.
Ein Buch, das ich auslieh und zu spät zurückbrachte, war der Ausgangspunkt. Ich selbst hatte noch, aus freien Stücken, angeboten, das Buch schon am nächsten Tag zurück-zubringen. Ich tat es nicht, erstens weil es eine Gurke war, zweitens weil ich ihr Bedürfnis nach dem Buch als gering wertete. Aus diesem Sachverhalt knüpfte Juana mit Hilfe von Heidegger, Adorno, Habermas und Walter Benjamin sowie ihres Temperaments ein moralisches System, das gegen mich sprach und das ich nicht auf Anhieb widerlegen konnte. Doch das Schlimmste: sie meinte es auch ernst!
Sie warf mich in aller Form aus der Wohnung, hatte zwar viel Spaß und Anregung durch meinen Besuch gehabt, hatte mich auch durchaus richtig verstanden, lehnte mich aber prinzipiell ab. Diesmal hatte mich nicht die schiere Dummheit abgewertet, sondern der Verstand, die Aufklärung, Adorno, die Frankfurter Schule, die jüdische Intelligenz.
Als ich ins Bett ging, hatte ich das Gefühl einstürzender Fachwerkhäuser . Ich griff mir an die Brust: "Meine Identität, meine Identität!" Wo soll das nur enden!
Annerose weckte mich, sechs Stunden später, mit viel Zärtlichkeit und naiver Zuneigung. Ich sagte überhaupt nichts mehr, schlürfte den Kaffee und ließ mir endlos lange all die kleinen Unerheblichkeiten erzählen, die sie gestern erlebt hatte.