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Das Fritz Brinkmann Buch 39

39. Kapitel

Einen Tag später war die problematische Simone durch Telse ersetzt, die ich als Befehlsempfänger gebrauchen konnte wie ich wollte. Außerdem fuhr sie, nicht Nici, und für ein gutes Programm war auch gesorgt. Man wollte Juana (die jüdische Intelligenz), Olaf Moll (Frankfurter Schule). diverse Wégés, Eva und Jan, den spektakulären Nietzsche-Film, den Straßenstrich, die dort liegenden Bars und die Peep-Show besuchen. Ich hatte Kopfschmerztabletten dabei, hatte vorher bei Frau Bücklers Akupunktur machen lassen, hatte Shitöl dabei, Annerose und Geld. So verlebten wir einen schönen Abend, zunächst einmal.


Nici hatte die Haare zurückgesteckt und sah entzückend aus. Ich saß vorn neben Telse, hinten waren Diedrich, Annerose und Nici gut drauf. Ich war gereizt, die Akupunktur war danebengegangen, die Kopfschmerzen waren lediglich mit Aggressivität angereichert. Telse versetzte mich in Wut, unerträglich ihr Aussehen. Alles an ihr war reizlos, grau, unscheinbar. Die Brille, die graue Haut, die grauen Haare, die unauffällige Kutte. Fritz Brinckmann hätte mir hinter Mauervorsprüngen Zeichen gegeben, er hätte sie mit Verachtung gestraft, und das tat ich jetzt auch. Vor allem im Vergleich mit Annerose und Nici wirkte sie wie Kot. Ihre Berechtigung, mit uns zu sein, war, sie beherrschen zu dürfen.


Mit kalter Stimme erteilte ich Befehle. Ich ließ sie zu Jan und Eva fahren, gegen Diedrichs Widerstand. Nici nahm ich mit, als ich ausstieg. Ich wollte irgendjemandem sagen, wie geladen ich war und wie ich Telse verachtete. Ich sagte es Nici im Laufen, es schien zuerst nicht anzukommen, heute aber weiß ich, daß diese Worte Nicis menschenverachtendem Zynismus entgegenkamen.

Dann gab es die schönste Szene des Tages. Eva, Nici und ich standen in Evas Wohnung, waren etwas außer Atem, guckten uns wechselseitig an und sagten nichts. Evas Zimmer erinnerte, mit Bohlen und weißen Scheinwerfern, an eine Bühne, und wie wir drei aufgebaut waren, wirkten wir wie Figuren. Es war wie in Peckinpah's The White Bunch, als die Szenen auslaufen, wo nach der Szenenhandlung kein Schnitt kommt, das Bild nicht gerade blöd angehalten wird, sondern die Schauspieler noch etwas ausharren.

Dies und ähnliches veranlaßte Nici, Annerose und mir vorzuschlagen, zu viert in ein Haus außerhalb Hamburgs zu ziehen. Sie fühlte sich ganz normal und natürlich dabei, wußte nicht, welche medizinischen und taktischen Verrenkungen ich bereits angestellt hatte, um noch mit ihr zusammensitzen zu können. Sie wußte nicht, wie sehr die Kopfschmerzen nach wie vor in mir waren. Es war nicht natürlich für mich, mit Nici auszukommen, mit ihr befreundet zu sein, es war problematisch. Dennoch war ich mutig, klatschte nicht reflexhaft Beifall, als sie vom Zusammenwohnen begann, sondern brachte bei allem Wohlwollen Zweifel vor, echte, ernstgemeinte Zweifel.


Auf dem Weg zum Kino, wenig später, sagte ich ihr nochmal, daß ich Schwierigkeiten hätte, ihren Vorschlag als wirklich ernstgemeint zu begreifen. Das heißt, ich rutschte nicht in eine völlig falsche Hurra-Begeisterung, die ja nahegelegen hätte. Annerose, das überraschte mich, war ebenfalls wie ich »geschluckt" worden, also für gut befunden worden. Sie leistete wertvolle Arbeit, war immer zur Stelle, wenn eine Situation zum Stillstand kam, integrierte die Außenseiter, fiel angenehm damit auf, nicht verklemmt zu sein. Aber inhaltlich war sie so schlimm wie noch nie. Ich habe mir vorgenommen, sie heimlich auf Band aufzunehmen und die treffendsten Stellen abzuschreiben. Es gibt keinen Unterschied mehr zu inhaltlichen Äußerungen anderer Mitglieder der Bücklers-Familie. Es ist unbeschreiblich, für mich, jetzt.


Spricht man davon, meinetwegen, daß Charles Manson Knut Hamsun gelesen hatte und erst dadurch auf die Sexualökonomie kam, würde Annerose in etwa sagen: »Ich glaube, ich habe einmal einen Film gesehen, wo so etwas vorkam, ich meine, wo dieser Charles Manson vorkam, nicht als Sexualökonom meine ich, sondern eher als Herrenreiter. Jedenfalls ritt er auf einem Pferd und hatte lauter Diener um sich, mit roten Uniformen. Vielleicht war es auch nicht Charles Manson, sondern Charles Bukonzki, gibt es den? ach, das ist ja ein Literat, aber der war es auch nicht, heißt der, englische König nicht Charles? Vielleicht war der es!“

Es wunderte mich also, daß auch Annerose akzeptiert war. Was das bedeutete beziehungsweise nicht bedeutete, wurde erst später klar.


Zunächst fuhren wir zum Kino. Nici legte ihren Arm auf meine Schulter, und ich fühlte mich bis in die letzte Zelle, unten in den Füßen, angesprochen. Erotik sollte aber nicht ins Spiel kommen, das wäre mir zu billig gewesen. Ich schämte mich und wäre am liebsten Kelle gewesen. Sie akzeptierte mich und Annerose, schlecht nachvollziehbar, so, wie sie früher mich und Annerose verachtet und aus der Wohnung geworfen hatte. Und ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt, mich zu wehren.


Sie betrieb Kommunikationsverweigerung, man konnte sie nicht abwerten. Naiv war sie nicht, aber um Komplexe zu haben, war sie viel zu gutaussehend. Doch nicht deswegen mochte Diedrich sie, sondern weil sie angeblich intelligent und intellektuell war. Das hieße, daß sie mir schlichtweg geistig überlegen war und mich dennoch ablehnte. Trauma! Ein Leben lang lehnten mich die Dummen ab wie die Klugen.


Später, nach dem Kino, das so blöde war, daß man sich schnell trennte (Nici rief noch während des Films gutgemeinte Kommentare zu mir, mußte dann aber erleben, daß wir uns von ihr absetzten, schnell nach Hause gefahren werden wollten), kam Diedrich noch zu uns in die Wrangelstraße. Er hatte sich mit ihr gestritten, aus einem leeren Gefühl heraus, so wie ich mit Annerose. Ein Gefühl der Leere, denn die lustigen, teils grotesken Erlebnisse, die gegenseitige Sympathie und allgemeine Harmonie verdeckten alles Problematische. So hätte man noch einige Stunden auf der Reeperbahn verbringen können, aber warum,? Nein, die Frage muß anders lauten, nicht „warum?“, sondern „wie lange noch?“


Es ist bekannt, daß man an solchen Abenden am besten mit Jan und Eva auskommt. Habe ich aber kein Bedürfnis nach Harmonie, sondern nach Konfrontation und Entfaltung, so tue ich mich mit jemandem zusammen und falle über andere her oder streite mit jemandem, der klüger als ich ist, wo ich also gefordert werde, die Sicherheit habe, mich nicht zu verfransen, nicht in Halb- und Pseudowahrheiten reinkomme...


Jedenfalls kam Diedrich in unsere Wohnung und meinte: So geht es nicht weiter. Er hatte keinen Bock auf Harmonie. Auch nicht auf Eva-Klose-Spanienfahrt `75, also auf Streitereien innerhalb einer an-sich-harmonischen Gruppe. Also: gar keine Gruppe. Ich stimmte ihm nur zu gerne zu, wußte aber, daß er das eigentliche Problem nicht im mindesten erfaßt hatte. Damit meinte ich nicht die 76er Vergangenheit, sondern viel übergreifender: warum überhaupt Harmonie in der Gruppe? Warum nicht ernst werden, wenn man sich längst akzeptiert hat? Natürlich verachten wir die Leute, die ihre Probleme im Bauchladen vor sich hertragen. Aber damit meinen wir doch nicht, daß wir KEINE hätten. Und wenn, dann könnte man sie veröffentlichen, untereinander, und die Harmonie wäre sofort weg. Natürlich macht man das nicht mit Jan und Eva (und ähnlichen), weil man weiß, was dabei herauskäme, nämlich heilloses Gestammel. Aber muß man das bei uns auch annehmen? Wenn ja, sollte man sich nicht so akzeptieren, wie wir das vorgeben. Ich schlug Diedrich also das vor, was mit dem Wört Gruppendynamik im Grunde richtig wiedergegeben wird. Natürlich erklärte er es zur Utopie. Niemals könne man zu mehreren Personen dasselbe Vertrauen haben. Recht hat er! Aber muß man denn gleich vom Extrem, vom Ideal ausgehen? Tendenziell mehr Vertrauen zu erreichen, wäre doch sinnvoll, tendenziell immer mehr Harmonie abbauen.


Da äußerte Diedrich andere Bedenken: DASS es klappen könnte. Dass das Zusammenführen von Diedrichs Erlebniswelt und Diedrichs Bezugsperson (und Analysator) zum Zusammenbrechen der Dialektik Erlebnis/Verarbeitung führen würde. Ist es so? Ich sah ihn skeptisch an. Er kann recht haben. Jedenfalls begann er, sinnlos zu saufen, das Thema abzubrechen, Zoten zu erzählen, wie wahnsinnig geworden über jugendliche Schweinereien zu lachen und ging dann auf allen vieren nach Hause.


Am nächsten Morgen kam er wieder, sagte, daß alles falsch sei, was er gestern gesagt hatte, daß er Nici einfach böse gewesen sei und der gestrige Abend doch ein gelungener gewesen sei. Dann lachte er wieder, griff in den Kühlschrank, köpfte das letzte Bier und zog damit ab. Was stimmt nun?


Wütend macht mich Anneroses grenzenlose Unwissenheit. Immer habe ich es gewußt, mehr oder weniger, habe es aber immer mit der Bauernmädchentheorie gerechtfertigt. Zum Reden sind die Männer da, das dachte ich schon, bevor ich zum erstenmal ein Mädchen hatte. Meine Geschichte der letzten Jahre ist der immer neue Versuch, mit dem anderen Geschlecht auch intellektuell auszukommen. Doch immer wurde mir klargemacht, daß Intellektualität erkauft wurde mit Defiziten auf anderen, wichtigeren Gebieten.


Eben eine Szene, die all das schlägt: Frau Bücklers sieht das Andreas-Baader-Foto an der Wand.

„Kind, das ist ja der Baader, warum hängt der denn da an der Wand,“

Annerose. „Ach, Mutti!“

Frau Bücklers: „.Findest du den etwa gut? Wie der schon aussieht! Wie ein Kranker. Der ist wie Hitler. Krankhaft geltungssüchtig. Der sieht nie, aus wie einer, der zielstrebig ist. Nein, der hat keinen Vater gehabt, wie Hitler, und wollte Maler werden, wie der Hitler.“

Annerose: „Mutti, du bist ja aufgehetzt von der Springer-Presse.“

Frau Bücklers: "Ja. Wie der Hitler. Er wollte mehr scheinen als er war."

Annerose: "Wo hast du das denn alles her?"

Frau Bücklers: "Ich habe mir meine eigene Meinung dazu gebildet. Ja. Das habe ich alles gelesen."

Annerose: "In der Springer-Presse!!"

Frau Bücklers: "Ja. Und dann hat er Selbstmord gemacht, wie Hitler, nicht? (lacht). Sag mal, machst du dich nicht strafbar, wenn du das Bild hier rumhängen hast?"

Lojo: "Na, die Freiheit muß man doch aber haben."

Frau Bücklers: "Findest du den denn gut, Lojo, den Baader?"

Lojo: "Er hat Geschichte gemacht, wie Adenauer, wie nur ganz wenige in den langweiligen letzten dreißig Jahren."

Frau Bücklers: "Was? (Geht zur Wand, reißt den Baader herunter, wirft ihn in den Ofen.) So, Kinder, ich muß wieder nach Hause. Ich lebe dafür, daß alles in Ordnung kommt. Ja."

Sie verschwindet, Annerose weint.






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