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Das Fritz Brinkmann Buch 42

42. Kapitel

25.12.1977

Ich saß und sagte nichts dazu. Alle wollen, daß ich zuhöre, das ist nun mal meine Rolle: Dabei soll ich ein sehr lebhaftes Kind gewesen sein. Doch schon nach wenigen Jahren begann es, daß ich stumm wurde, jedenfalls am Mittagstisch, so wie jetzt. Genug! blaffte ich, und sagte, ganz Ehemann: Ich habe zu tun, entschuldige bitte.


Ich ging zur Bibliothek. Eine Liste mit vierzehn Leuten, die ein Buch bekommen sollten, ich rückte die Lampe näher. Wundervolle, an Köstlichkeiten reiche Bücklers-Bibliothek. Irenäus Eibl-Eibesfeld: Das Tier im Menschen. Friedebert von Gotthold: Pastorenwitze. Grillparzer: König Ottokars Ende. Hermann Hesse: Märchen. Gesamtausgaben von: Hebbel, Geibel, Grabbe, Reuter, schließlich die Marx/Engels-Gesamtausgabe vom Ostberliner Aufbauverlag. Ganz unten. Der Zupfgeigenhansl in allen Ausgaben: Rororo, Fischer Taschenbuch, Volk und Wille Verlag mit Schweinsleder und englischer Broschur und Wiener K. und K. Verlag in Dünndruck und Seide.


Diedrich klingelte. Nach einigem Zureden nahm er die Namensliste und koordinierte sie mit den etwa zweihundert Büchern im Regal. Die Weihnachtsgeschenkfrage war damit erledigt.


Annerose, als Ehefrau, rief zum Abendessen. Wir setzten uns, Kerzen brannten, flambierte Artischocken und gegrillte Zwerghühner brutzelten auf dem festlich-gediegen geschmückten Tisch. Im Radio leise Brahms.


„Hoho, das kann sich sehen lassen, was, Diedrich, tönte ich, mehr zu Annerose gewandt, und griff zur Serviette. Wir ließen uns nichts entgehen und brachten es auch noch fertig, simultan zum Kauen, Beißen, Schlucken ein flüssiges Gespräch zu unterhalten. Erst das gekochte Ei, dann das Marmeladenbrot, die Marzipankugeln, der Früchtejoghurt, die süße Zuckermilch, die Kuchen und Torten, die selbstgemachte Dickdruck-Pizza, die fettigen Pfannkuchen und die Negerküsse zum Nachtisch. Dazu tranken wir zwei Kannen Kakao aus guter Fettmilch gemacht, Diedrich noch eine H-Milch mit Erdbeergeschmack extra.


Spätestens bei den Früchtejoghurts begann das Gespräch zu stocken, es wurde immer schwerfälliger, bis Diedrich nur noch einzelne Brocken über Bundesligafußball hervorbrachte. Mit geröteten Augen fragte er mich, ob Schalke schon einmal Pokalsieger gewesen sei.


Dann, vollgestopft mit Teigwaren, Dickmilch und Marmelade, zwängten wir uns von den Sitzen und stapften, gegeneinander gestützt, ins andere Zimmer. Annerose, die weder gegessen noch etwas gesagt hatte, räumte den Tisch wieder ab. Sie war die eigentliche Siegerin. Würde Omigosh oder Thorsten Günter oder John oder sogar Ali kommen, wir hätten ihnen nichts entgegenzusetzen. Omigosh würde wieder sagen...“Jetzt nehm ich sie und ficke sie bis sie schreit vor Lust“, und wir beide, Diedrich und ich, könnten nur dröge zusehen.


Noch schlimmer: Ali könnte uns beweisen, daß das Tibetanische Totenbuch das effektivste Instrument ist, um in der spätkapitalistischen Zeit zurechtzukommen, und wir könnten nur ja, ja sagen.


Sogar der Abschied wurde zu einem anstrengenden Unternehmen. Indem ich den Kopf hob, um Diedrich in die gequollenen Augen zu sehen, drückte ich einen Satz heraus, den letzten, der mir an diesem Abend noch gelang, nämlich: „Wolltest -du - nicht - gehen?“ Diedrich nickte, wobei ihm das Kinn auf die Brust fiel, dann tastete er sich den Korridor entlang bis zur Wohnungstür. Da angekommen, standen wir uns unschlüssig gegenüber, Diedrich hob den rechten Unterarm, um eine Geste zu vollführen, vielleicht wollte er mir auf die Schulter klopfen, doch das Ärmchen hing schon wieder wie ein ausgestopfter Jackenärmel am prallen, gemästeten Körper. So ging er dann ohne Abschied.


Ich saß nun mit Annerose allein in der Küche, und wir rauchten eine Zigarette und tranken Kaffee. Mein Arbeitsgewissen meldete sich, und ich nahm mir vor, ins andere Zimmer zu gehen und etwas für die Uni zu schreiben. Zwei Tassen Kaffee würden mich wieder aufrichten. Gesagt, getan, tatsächlich erwies sich Annerose als tolerante Idealpartnerin: gern wollte sie mich arbeiten lassen und sich selbst mit Malen beschäftigen. Ich schrieb den ersten Satz, da kam Omigosh. Ich verrammelte die Zimmertür. Prompt klopft und zerrt es, Omigosh ruft mich, ich halte die Hände vor meine Ohren. Dann ist es vorbei, aber ich muß in meinem Zimmer bleiben, kann mir nun doch keinen Kaffee kochen. Die Minuten vergehen, ich schreibe so gut wie nichts, werde immer müder, lege mich schlafen. Die Tür knallt, davon wache ich auf. Omigosh und Annerose sind weg, es ist null Uhr sechzehn. Ich gehe in die Küche, esse noch einen der geisttötenden Joghurts, werde trotzdem wach, lese dann noch, bevor ich einschlafe: Hemingway, Grillparzer, Gantenbein von Frisch. Um fünf Uhr morgens weckt mich Annerose, will die neueste Omigoshgeschichte erzählen, aber ich lasse sie nicht.


Dann ist Weihnachten, der 24. Wir schlafen bis vier Uhr nachmittags. Seit zehn Uhr wache ich immer wieder auf, flüchte sofort erneut in den Schlaf, sobald ich an Weihnachten denke. Völlig blöd übrigens, denn was ist Weihnachten anderes als eine lustige Abwechslung. Die Stimmung nach dem Aufstehen, es war bereits dunkel, war natürlich verheerend. Wie konnte man nur den ganzen Tag verschlafen. Parallel zu unserer Stimmung konnte man die Stimmung aus den Nachbarwohnungen wahrnehmen: überall wurde gestritten, brüllten Familienväter, heulten Mütter, wurden Kinder geschlachtet. So verfiel ich darauf, etwas Sport zu treiben, drehte fünf Runden um die Häuserblocks.


Dabei wehte mich sturmartiger Wind um, riß mir sogar das Hemd, auf, ich fror, spuckte Blut und hörte die Lunge rasseln. Eine ekelhafte Szene. Dann regnete es, vermischt mit Hagelkörnern und Schneeflocken.


Naß und schweißverklebt ging ich die Treppen hoch. Allerlei Nachbarn kamen mir entgegen und wünschten langatmig ein frohes Fest. Oben knallte eine Tür, und ein Mann schrie: DAS ist nun Heilig Abend, DAS is nu Heilig Abend!! Auch ihn mußte ich noch passieren, ehe ich in die Wohnung schlüpfte, in der Annerose nackt auf dem krümeligen Fußboden saß und stumm weinte. Als hätte sie mich angesprochen, befahl ich ihr, mich in Ruhe zu lassen und ging ins Bad, drehte den Schlüssel um. Ich hatte mich beim Laufen übernommen, eine Lungenentzündung war möglich.


Schließlich kam ich wieder heraus, griff die Bücher aus dem Regal, tat sie in einen Koffer, sah zu, wie Annerose an niedlichen Kindchengeschenken bastelte und pinselte. Ihre Gesichtszüge waren hart geworden, übrigens nicht erst seit diesem Tag. Sie schien in ihre Arbeit versunken, sagte dann aber, ohne mich anzusehen, daß ich ihr plötzlich wie ein Doofer vorkäme.


Dann gingen wir zusammen auf die Straße, die schwarz und leer war wie nach dem Atomschlag - ein platter Vergleich, ich weiß, der meinem geistigen Zustand aber angemessen war. Annerose erzählte nun, während wir spazierengingen, die Omigoshgeschichte, was mich wütend machte, so daß wir uns wieder stritten und Annerose mit bösen Augen damit drohte, auf der Stelle in Tränen auszubrechen.


So brachen wir den Spaziergang ab, winkten ein Taxi und ließen uns zu den Verwandten fahren. Im Taxi, hinten sitzend, sprach ich geschwollen und so, daß es der Fahrer hören konnte, von Solidarität, und Annerose stimmte seltsamerweise zu.


Wir versöhnten uns im Rücken dieses Taxifahrers, der beim Zahlen etwas von einem Scheißweihnachten sagte.


Nun stand das Schwerste bevor. An der Wohnungstür öffnete Eckart. Wäre es Mami gewesen mit mütterlicher Festfreude. ich hätte ihr die Zunge abgebissen. Dann nahm ich mir vor, mich rücksichtslos abzureagieren, den Familientyrannen zu spielen und zwar frohen Herzens. Das schien mir eine akzeptable Lösung zu sein: das Weihnachten hier zum historischen Skandalweihnachten zu machen, von dem man noch in vielen Jahren sprechen würde, ein Weihnachten à la Beckett, das schien mir sinnvoll.


Es kam dann nicht dazu. Man aß Ente, Gans, Puter, Geier und gesprenkelte Fledermäuse, trank Wein, weißen und roten, ausgelesenen, spätgelesenen und gerieselten, sprach flapsig und progressiv über dies und jenes, silberne Lüster zu hunderten im alten Rittersaal, große Edeltanne mit einem Zentner Lametta im Hintergrund. Der Tisch zu viert: Mami, Eckart, ich und, gleich rechts von mir, der Farbfernseher. Beim Sprechen huschte ich immer mal wieder über die elektronischen Programmtasten, Eckart hatte die kabellose Fernbedienung in der linken Hand und mischte mit, Mami dagegen spielte mit dem Radiowecker, den ihr Chef ihr geschenkt hatte. In der Küche hallte der alte, demnächst ausrangierte Quäker, wir aber aßen, tranken, plapperten mit vollem Mund und atmeten schwer vom vielen Geflügel.


„Ich bin papp-satt“, protestierten wir 'Kinder‘, als Mami den zweiten Gang reichte, obwohl wir längst zu Lebkuchen, Spekulatius und Dominosteinen übergegangen waren - umsonst. Geschranzte Gänseleberpastete, gepunkelter Klumpfuß und geschleißte Schlünzsoße standen dampfend vor der Nase.


Dann kam Frau Hofmann, langsam keuchend, Schritt-für-Schritt wie Papst Paul, von Mami geführt. Eckart und ich drehten uns nur leicht in den Sesseln, machten Handbewegungen. „N‘Abend, Frau Hofmann., sagte Eckart, "frohes Weihnachten, nicht?“ Dann wurde der Serviertisch hinauseschoben, Frau Hofmann auch, und Mami, die am wenigsten schwankte beim Gehen, Annerose suchte immer meine Nähe, verfolgte mich bis zur Toilette und wollte mit mir schlafen. Ich mußte ihr sagen, daß es hier nicht ginge. Nici war sehr nett, als ihre Art von Weihnachtsgeschenk. Felix präsentierte sich als Wunderknabe, Stephan als der liebe Stephan, auch das ein Weihnachtsgeschenk? Und ich lief fröhlich immer im Kreis herum. Diedrich erzählte Donald-Duck-Geschichten, begann, als er mein Gesicht dazu sah, mit Eckart eine Diskussion. Es wurden viele Fotos gemacht, und alle waren reizend zueinander. Nur Eckart, als Eckart, und Swen, als dümmlicher Freund, standen abseits.


Dann legte ich etwas an Tempo zu, und Annerose, Stephan, Felix und ich machten uns einen vergnügten Abend im Madhouse mit André Rademachers „Jackets“. Stephan küßte Felix, worüber sich dieser, der 16jährige Wunderknabe, mit Annerose und mir aussprechen mußte. Neunzig Minuten lang besprachen wir den Komplex Kuß: den ersten Kuß, den Zungenkuß, den Kuß unter Homosexuellen, den Kuß zwischen Mutter und Sohn, den Kuß zwischen Annerose und Felix. Da stoppte das Gespräch, Annerose wollte Felix nicht küssen, Felix stieg aus und wir fuhren nach Hause.


Am nächsten Morgen, am 25.12.77, stand ich früh auf und brachte Diedrich mit Eckart zusammen. Aus gutem Grund: es ging um mich. Demnächst schreibe ich ausführlich darüber.




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