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Das Fritz Brinkmann Buch 43

43. Kapitel

26.12.1977

Ich war mit Annerose allein und sie, warum soll ich es nicht sagen, plapperte mich voll, wie immer. Unkritisch und ehemannhaft hörte ich zu, brummte manchmal und griff dann zur Zeitung. Wie in den Filmen. Ehemänner reden nicht, brummen nur wohlwollend, während die Ehefrauen etwas Aufgewecktes und Kindliches an sich haben, schlagfertig und lebensklug-praktisch sind.


Früher entwickelte ich die These der Sprachlosigkeit des Unterdrückten, d.h. in allen Beziehungen gibt es einen dominanten und einen nicht-dominanten Partner, wobei der nicht-dominante sprachlos wird, eine Haltung, die er keineswegs von Geburt aus hat, sondern nur in dieser Beziehung.


Es wurde immer schlimmer. Annerose und ich schliefen miteinander, worauf ich 'nen Horror kriegte, aufstand und nackt im Zimmer stand, mich weigernd, ins Bett zurückzukommen. Nun wollte Annerose natürlich wissen, warum ich auf Horror war. Ich trank viel Kaffee, setzte mich in einigen Metern Entfernung und angezogen ihr gegenüber, blitzblank gewaschen, und nahm mir vor: Jetzt sag ich alles, jetzt versuche ich mal, mich auseinanderzusetzen. Sie sei spießig, das Zimmer auch, fing ich an. Sie widerlegte es mir ohne Mühe. Ihre Platten seien saublöd, sagte ich. Sie widerlegte es, indem sie klarstellte, daß ich von Musik nicht das mindeste verstehe. Bei allen anderen Gebieten war es ähnlich. In der Tat interessiere ich mich ja für nichts Inhaltliches, bin nirgendwo Spezialist und daher nirgendwo überlegen. Daß sie sich von ihren Eltern emanzipieren müsse, konterte sie mit der Behauptung, sie sei seit vielen Jahren gänzlich unabhängig von ihren Eltern, während ich noch in fünfzig Jahren an Mutter- und Vaterkomplexen herumdoktorn werde. Sie hatte recht: Vergangenheitsbewältigung hatte sie nie nötig.


Auf den Vorwurf, sie interessiere sich nicht für die Welt, sondern nur für ihre blöden Liebesbeziehungen, reagierte sie lächelnd: ich täte doch auch nichts anderes. Ich sollte ihr nicht vormachen, ich interessierte mich tatsächlich für Literatur und Film. Auf den Vorwurf, sie würde immer nur essen und lieben und fernsehen, anstatt sich auseinanderzusetzen und zu diskutieren, sagte sie, sie hätte mich bisher in allen Auseinandersetzungen und Diskussionen an die Wand reden können, viereinhalb Jahre lang, so daß die Vermutung naheläge, sie sei in Auseinandersetzungen und Diskussionen geübter als ich. Auch damit hatte sie recht.


Ich solle ihr nicht immer erzählen, fuhr sie fort, ich würde außerhalb dieser Wohnung diskutieren. Bei Olaf Moll wie bei Diedrichsen habe ich lediglich mit großen Augen und verstopften Ohren zugehört und Beifall geklatscht. Gerade WEIL ich so unausgegoren und denkfaul sei, habe ich die Tendenz, andere für mich denken zu lassen und dann so zu tun, als wäre ich schlauer als andere. Die vermeintlich Klügsten und Beredtsten nehme ich, um ihre Meinungen zu übernehmen, aber sobald man nachhake, käme ich ins Stottern. Schon wieder hatte sie recht.


Was mich denn von Jan Bertheau unterschiede, fragte sie rundheraus, außer der erfreulichen Tatsache, daß er sich nicht verleugnete. Nun, in meiner Verzweiflung, holte ich den größten und letzten Trumpf hervor: ich hielt ihr vor, Max von der Grün mit dem Grünen Heinrich verwechselt zu haben! Sie lachte und wies darauf, in, daß ich einmal Sibylle Nitschmann mit Sybille Nitschmann angesprochen hatte, und daß ich einmal einen Opel Record mit einem Opel Kadett verwechselt hatte. Ich sagte kleinlaut: besser, man streckt sich nach der Decke (sprich Olaf bzw. Diedrich), als selbstherrlich in der Bücklersküche zu sitzen.

Was sei an den beiden denn 'Decke'? wie wenig diese beiden Knaben etwas Besonderes seien, merke man schon allein daran, was für knallköpfige Mädchen sie genommen hatten. Ira, die nur in Babysprache reden könne, und Nici, deren einzige Argumentationsmethode auf das Wörtchen ‚biez‘ hinauslaufe.


Ich fragte, warum sie mich geheiratet hätte, und sie sagte, Gefühle seien irrational, und sie möge meine Nase und meine Ohrläppchen, ohne es rationalisieren zu können oder zu wollen. Ich war vollkommen erschüttert und hatte keine Lust mehr, etwas zu schreiben oder zu lesen. Alles war Selbstbetrug. Ich ging ins Bett und schlief in den Tag hinein, in den Abend hinein.


Gespräche mit Annerose haben etwas furchtbar Desmotivierendes. Wenn ich ihr zum Beispiel sage, sie solle kein Geld mehr von den Eltern nehmen und mit ihrer gesamten Bücklersvergangenheit brechen, sagt sie nur: Warum? Und ich sage: Entwicklung. Sie sagt: Warum sollte ich mich ohne Geld besser entwickeln? Was hat ein Elternbruch mit meiner Entwicklung zu tun? Wieso sollte ich zu besseren Bildern inspiriert werden, wenn ich den Hörer auflege, sobald Carola anruft? Ich sage: Weil alles, was wir tun, mit Identität zu tun hat. Sie lacht nur, wartet noch fairerweise auf bessere Erklärungen, die aber mangels sprachlicher Performanz nicht kommen, und erzählt dann von Omigosh, von Knötchen, von einer Dose, in der früher eine Puderquaste gesteckt haben soll und die jetzt als Zigarettenschachtel dienen könne und ein niedliches Bild auf dem Deckel habe, zwei Vögel, die ein Nestlein bauen, und ob ich etwas dagegen hätte, daß wir die große Teedose nicht wegschmeißen, obwohl der Tee alle ist und eine neue Verwendung noch nicht feststeht, und ich brumme wieder ehemannhaft was ja und weniger ja bedeuten kann auf jeden Fall nicht nein und sie fragt weiter ob wir in die silberne Dose nicht das Brot reintun sollten und warum ich die vielen Kissen schon wieder zum drittenmal aus meinem Zimmer entfernt habe.


Ich sage mutig, daß mir die Kissen und vor allem der fesche Knick in der Mitte nicht gefallen. Warum? Sie seien spießig. Die Rissen oder die feschen Knicks? Eher letzteres. Warum? Ich kann es nicht begründen und nehme es also zurück. Annerose geht ins andere Zimmer und holt die Kissen, ordnet sie liebevoll auf meinen Matratzen und vollführt mit der Handkante jeweils in der Mitte einen präzisen Knick.


Andreas Sarlok kommt, besucht Annerose. Schon wieder legt sie die 'Tubes' auf, und ich fauche sie deswegen an: Un-er-träg-lich! Sie sagt, ruhig und deutlich, daß sie dieses Verhalten an mir nicht mag. Ich solle sie akzeptieren wie sie sei und ihren Geschmack tolerieren. Möge ich ihre Musik nicht, solle ich mir etwas in die Ohren stopfen.


Dann legt sie Andreas die Karten. Als ich etwas später ins Zimmer komme, liegt sie mit ihm auf dem Boden und liest aus dem Kartenbuch vor. Statt der 'Tubes‘ spielen mittelalterliche Lautensextette mit Carola Bücklers, erschienen im Raubdruck beim Volk-und-Wille-Verlag, Königsberg.


"Was glaubst du eigentlich", frage ich sie, in der Tür stehend, "warum es in München so schiefgelaufen ist?" (Mir ist ein neues Argument eingefallen.)

Sie antwortet nicht, und ich fahre fort: „Was war das für eine Chance für dich: neue Stadt, neue Welten, neue Eindrücke, neue geistige Strömungen - aber was machst du: Frühstücke!“

Sie sagt mit freundlicher Stimme: °Warum es in München schiefging, lag an deinem Vorurteil, Frühstücke würden schlapp machen.“

„Ja, tun sie es etwa nicht?!“

"Natürlich nicht. Mich jedenfalls nicht. Aber du warst ja immer etwas sonderbar. weißt du noch deinen Schnitzeltick? Oder dieser Täglich-laufen-Tick, oder der Thunfischtick. Immer denkst du dir sowas Verrücktes aus, warum, weiß ich nicht. Hättest du aber diesen Tick 'Frühstücke à la Annerose machen schlapp' nicht gehabt, wäre es nicht so schlapp geworden in München.“

Ich bäume mich auf: „Die anschließende Shitzigarette war das schlimmste... deren Wirkung kannst du ja wohl nicht leugnen! Dreißig IQ-Punkte hast du verloren, das steht fest!“

„Seltsam, lieber Hase, daß ich sogar nach Abzug von dreißig IQ-Punkten in allen Diskussionen besser abschneide als du.“


Sie hatte recht.




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