45. Kapitel
29.12.1977
Ich habe die kleine Eigenart, immer dann, wenn ich viel zu früh geweckt werde und es noch dunkel und sehr kalt ist und neben mir ein junges, warmes, schlafendes, nicht schnarchendes, sondern vielleicht träumendes Mädchen liegt, schmusen zu wollen. So auch heute. Eine gute halbe Stunde lang tat ich mich gütlich, dann machte ich mich frei, stand auf, rieb die Augen, rief: „Annerose, aufstehen! In zwei Minuten fahre ich! Geschminkt wird heute nicht!“
Tatsächlich war ich zwei Minuten später fertig und verschwand. Ich trat ins Freie. Was ich nicht wußte, war, daß Diedrich am anderen Ende der Straße in seiner Wohnung am Fenster stand und mich mit einem Fernglas beobachtete. Er sah mich also kommen und öffnete die Tür, ohne daß ich geklingelt hätte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, vor dem Klingeln ein bißchen vor der Tür zu lauschen, um zu hören was Diedrich und die schöne Nici im Geheimen besprachen, wenn andere nicht zugegen waren, aber das ging nun nicht mehr. Ich trat ein, es war kurz nach elf Uhr.
Ulf Bertheau hatte am Abend vorher mit mir folgendes Gespräch: Lojo, was tun die beiden jetzt, zu zweit, in dieser Wohnung? Meine Antwort kam schnell: Das ist leicht zu sagen. Diedrich liest mehrere Briefe Benns an Oelze vor, dann liest Nici Fallstudien von Sigmund Freud vor, dann lesen sie noch anderes und ähnliches vor und steigern sich dabei in einen intellektuellen Rauschzustand, der über viele Stunden anhält. Gegen sechs Uhr morgens geht Nici in ihr Zimmer und Diedrich in seins.
Ulf sah ungläubig zu Boden. Er mochte das nicht annehmen. Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, dann sagte er, wobei er den Kopf schüttelte beziehungsweise hin- und herbewegte: Wir wissen nicht, was sie tun, wir können es nicht sagen, niemand kann es. Damit war für ihn das Thema erledigt.
Ich stand nun vor Diedrich, er hatte das Fernglas noch in der linken Hand. Mein Blick flackerte kurz in die Zimmer um festzustellen, daß Nici nicht mehr da war. Ich wollte schon fragen, wo sie war, unterließ es aber, weil er nicht geantwortet hätte. Vielleicht hätte er auch gesagt, er wisse es nicht. So blieb ich in diesen ersten Augenblicken stumm und Diedrich sprach, während ich schnell atmete: "Wir müssen eine knappe Stunde warten bis Nici angerufen hat. Wir werden bis dahin Kaffee trinken und uns unterhalten. Hast du Professor Köster angerufen?“ Ich verneinte mit schlechtem Gewissen.
Diedrichs Autorität, sein Auftreten trieb mich dazu, auf dem Boden Platz zu nehmen, förmlich in der Fußmatratze zu versinken und den Oberkörper mit den Armen unbequem abzustützen. Diedrich blieb stehen, und ich mußte ihn ansehen, als säße ich in einem großen Kino ganz vorn rechts.
Dann tat er eine Geste, die ich nie vergessen werde, weil sie einmalig war, weder vorher noch nachher je ausgeführt wurde. Er bot mir an, aus seiner Colaflasche zu trinken. Er reichte sie mir, und ich sah ihm erschrocken in die Augen, die ruhig und überlegt bereits auf mich gerichtet waren; er wußte, was er tat, es hatte etwas zu bedeuten. Es handelte sich also nicht um normales Coca-Cola. Ich nahm einen Schluck. Er wartete, daß ich ihm die Flasche zurückgab und reichte mir dann eine Fotografie.
Es fiel mir nicht schwer, das auf dem Foto Dargestellte einzuordnen. Es waren zwei junge Menschen, ein Pärchen offenbar, ein Mädchen und ein Junge, beide etwa 23 Jahre alt. Das Mädchen war Nici, die auf dem Foto auch äußerlich etwas Geheimnisvolles hatte. Diedrich ging einige Schritte zur Tür, sagte: "Es ist eines der ersten amtlichen Fotos über diese Geschichte. Ich werde mir kurz etwas Wasser über die Haare machen. Warte solange“. Damit ging er hinaus und ich blieb allein im Zimmer und hatte ein bißchen Zeit um nachzudenken.
Ich dachte an das Gespräch, das ich vor einigen Tagen mit Schäfer geführt hatte, Gerd Schäfer, der vor einem Jahr so sehr in Nici verliebt war, daß er, als er sie nicht bekam, und zwar in nicht der geringsten Hinsicht bekam, rauschgiftsüchtig wurde und mit seinem Auto auf der Autobahn verunglückte. Es ging vordergründig um ein so einfaches Thema wie individuelle Entwicklung. Ich versuchte, ihm anhand kybernetischer Regelkreismodelle zu beweisen, daß ein tätiges, zwanzig Jahre entwickeltes Gehirn gar nicht aufhören könne, sich permanent weiterzuentwickeln. Schäfer fragte nur: Was sind kybernetische Regelkreismodelle? Ich wußte es nicht und wurde rot.
Ein anderes Beispiel: Als ich mich einmal gegen den Film 'Die Kinder des Olymp' ausgesprochen hatte, fragte Diedrich unwirsch, was ich denn gegen den Film einzuwenden hätte. Ich kam in Verlegenheit, denn ich hatte nichts zu dem Film zu sagen. Wenig später las ich Annerose ein Gedicht von Trakl vor. Auf die Frage, wie ich das Gedicht fände, konnte ich nur sagen: "Dicht". Um abzulenken, fragte ich zurück: Wie findest du Carolas Tagebücher, die Fischer-Behrmann jetzt herausgegeben hat? Sie brauchte nicht lange nachzudenken, gab in freier Rede eine geschliffene Begründung, sprach von persönlicher Verbundenheit, von Einblicken durch Traumanalyse, Krankheit als Leitmotiv Bücklerscher Pädagogik, sensibler Fallstudie für den Bücklerskenner etc. Als sie dann zurückfragte, fiel mir nichts ein. Ich konnte nur unbegründete Wertungen über das Werk gießen: "Unerträgliches Gedöns, eine Zumutung, wer soll so etwas lesen wollen, was wird erst ein Carola-FREUND zu hören kriegen, wenn sie schon im Tagebuch von der ersten bis zur letzten Seite banales Einerlei aneinanderreiht.“
War es, daß ich vor Annerose nicht frei sprechen konnte, weil ich jahrelang nicht hatte sprechen sollen, oder war es, daß ich mein Leben lang wohl Wertungen, nicht aber Meinungen gesammelt hatte? Vieles spricht für letzteres, denn als ich einmal von Nici gefragt wurde, wie ich den Film 'Im Laufe der Zeit' fände, konnte ich nur stammeln:
"Er... zeigt Welt, ein Stück Welt, ja, das tut er wohl." Es war natürlich ein Skandal, kostete mich meine berufliche Habilitation, ich mußte Hamburg für ein Jahr verlassen und versuchen, woanders etwas zu werden. Ich versuchte dann in der Tat, Meinungen zu entwickeln, zog mich in die Studierstube zurück und hoffte, klug zu werden. Guten Mutes kam ich ein Jahr später nach Hamburg zurück, doch was mir passierte, war folgendes:
Felix Reidenbach fragte mich, ob ich ihm mein Lebenskonzept der Inszenierung theoretisch erklären könnte. Ob alles an mir beliebig sei oder ob ich nach Prämissen vorginge, die nicht zur Disposition ständen. Ich sagte: Letzteres. Er fragte: Und welche Prämissen wären das? Blut trat mir in den Kopf, doch umsonst: ich wußte es nicht, ich mußte schweigen. Er machte noch einen Versuch mit mir: "Was würdest du denn unter dem Begriff 'Prämisse' verstehen, den du ja offenbar selbst verwendest?" Ich wußte es nicht. Sicher, ich verwendete täglich diesen Begriff, doch was er wirklich bedeutete, wußte ich nicht.