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Das Fritz Brinckmann Buch 49

49. Kapitel

4.1.1978

Annerose setzt sich durch: wir fahren zu Maddel Sinios. Für nur 150 Mark hat er ein ganzes Haus gemietet, am Waldrand. Soso. Wir fahren also durch Barmbek, Wandsbek, Bramfeld, Bad Bramstedt, Hoisbüttel, Krukendorf, Reddingstedt, kriechen deprimiert nach Norden, passen uns der hier üblichen Höchstgeschwindigkeit von 12 Stundenkilometern an. Hier verliert alles seine Farbpigmente, erschrocken sehe ich, wie auch Anneroses Haare ausbleichen und ihre Augen grau werden. Ich selbst sehe aus wie Opi, Opi aus Essen.


Schließlich biegen wir in ein offenes Gelände ein, der Wagen bleibt im Schlamm stecken, wir steigen aus und gehen auf das Haus zu, Maddels Haus. Annerose rutscht mit ihren dünnen Beinen und noch dünneren hochhackigen Schuhen bis zu den Knien in den sicher fruchtbaren aber kalten schneeschlammnassen Dreck, dann ducken wir die Köpfe und betreten die Innereien des vermeintlich warmen, gemütlichen Bauernhauses. Doch es ist nicht so, wir stehen auf grauen Steinfliesen, frieren, sehen uns um, entdecken karge, schlecht verputzte Wände, Mörtel, ein paar Steine, einen installierten Elektroherd, an der Decke baumelt eine nackte Glühbirne. "Es ist noch nicht fertig", verrät uns Maddel, "aber im Vergleich zu letztes Jahr ist es nicht wiederzuerkennen, die reinste Prunkvilla!"


Wir erfahren, daß er Tag und Nacht am Haus arbeitet. Carola Bücklers würde sagen, er baue sich ein Nestlein. Maddel reibt sich die Hände und meint herzlich-herzhaft, er wolle erstmal einen schönen gemütlichen Tee machen. "Ja, das tu du man", falle ich sofort in seinen Ton ein. Die Hausbesichtigung verschiebe ich auf später. Erstmal einen schönen gemütlichen Tee trinken und ein bißchen warm miteinander werden.


Wir gehen in das einzige Zimmer, in dem geheizt ist. Draußen ist es schlagartig dunkel geworden, es ist, als halte sich das Tageslicht nur mit letzter Kraft für wenige Stunden, vielleicht auch nur für halbe Stunden, vormittags eine halbe, mittags von 12 bis halb eins und dann abends nochmal von vier bis halb fünf. In dem geheizten Zimmer liegen Matratzen auf dem Boden, über die, jedenfalls über einer, Felle gebreitet sind. Neben der einen Matratze steht ein handbreithoher sogenannter Tisch, ziemlich lang und durchaus als Tisch funktionsfähig, wenn man sich auf das niedrige, gliederziehende Matratzensitzen eingelassen hat. Eine schöne altdeutsche Kerze spendet Licht, schon bald steht der dampfende Tee in einem bauchigen Keramikgefäß auf dem Tisch.


"Hast du die Tassen selbst gebrannt?" fragt Annerose, und Maddel betrachtet es als Kompliment, während ich das Gegenteil darin sehe. Ja, er hat sie selbst gebrannt. Er fühlt sich plötzlich so wohl, daß er zu Annerose rüberrobbt und seine Arme um ihren Kopf, ihren Hals schlingt. In dieser Stellung verharrt er oder verbleibt er etwa acht, neun Sekunden lang, dann löst er sich, lacht ein wenig und dreht sich zu mir. Er bewegt sich auf mich zu, umarmt mich natürlich nicht, macht aber etwas Schlimmeres: über das ganze Gesicht grinsend sieht er mich an. Ich ziehe meine rechte Schulter leicht nach hinten und gebe ihm dann einen gutgemeinten Schlag in die Rippen. Während mir die Rückenwirbel erstarren, lache ich ihn an. Ich ziehe die Mundwinkel nach unten und sage herzhaft: "Na, du?" Und er erwidert die wohlgemeinte Floskel. Dabei ist er nicht herzhaft, sondern menschlich.


"Siehst immer noch aus wie damals", stellt er fest. "Nein, nein, ich habe mich ganz schön verändert", entgegne ich lachend, noch immer mit verkrampften Rückenmuskeln. Es besteht die Gefahr, daß wir uns in ein Gespräch einlassen. Ich frage, ob er vielleicht ein Telefon für mich habe, doch er verneint. Er erhebt sich, geht zur "Anlage" - natürlich besitzt er die große standesgemäße Anlage mit Verstärkern, Boxen, Bandgeräten und vielen ElPees - und legt eine neue ElPee auf: Bob Dylan, Blood an the Tracks.


Ich frage: "Was macht eigentlich Christine?" Antwort: Sie sei reizlos geworden, die Beziehung so flach wie zu der Zeit, da sie sich kennenlernten, sie habe nur noch Augen und Ohren für ihr Studium. Sie studiere vergleichende Sprachwissenschaften. Ich denke: Rückfall ist für ihn, sich wieder, so wie früher, für etwas brennend zu interessieren. Die große Veränderung, nämlich die zur Null hin, hat sie wieder rückgängig gemacht und ist nun in seinen Augen rückschrittlich.





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