53. Kapitel
18.1.1978
Blick links aus dem Fenster des Lesesaales: grauer Beton, mit keiner seelischen Energie besetzt. Ein Gefühl wie das Ansehen amerikanischer Serienkrimis: Verlorenheit. Ich ging über zu Primärliteratur, las eine halbe Stunde Benn. Kurios: Benn interessiert mich brennend, immer wieder finde ich mich vor einem Bennbuch sitzend, aber doch überfliege ich alle Zeilen, bin mit den Gedanken woanders, weiß nicht einmal, ob ich nicht alles zum zweiten- oder xtenmale lese, weil ich es nicht die Bohne aufnehme.
Letzte Nacht Schulmädchen wiedergetroffen. Es dürfte nicht schwerfallen, in einem Satz alles wesentliche über sie zu sagen. Dürtenmilieu, liebende Eltern, Wohlstand, eigenes Haus mit Garten am Stadtrand. Einzelkind, keine strenge Erziehung, sondern gar keine. "Ich darf alles machen, es gibt da keine Verbote, aber mein Vater macht sich Sorgen, das merke ich, das ist viel schlimmer." Ich könnte ihr ein rohes Ei an den Kopf klatschen und sie würde sagen: "Na, wenigstens mal etwas anderes."
Von ihrem letzten Freund sagt sie: "Wir haben uns dann immer seltener gesehen und irgendwann einmal gar nicht mehr." "Ein unrühmliches Ende", sage ich, und sie sagt: "Allerdings." Sie ist noch zu jung, um etwas Existentialistisches an sich zu haben, das kommt später.
In ideologische Richtungskämpfe wird sie mich nicht ziehen, pubertäre Diskussionen bleiben mir erspart, stattdessen wird sie meine Verrücktheiten eher begrüßen als ablehnen, nur frage ich mich, was bekomme ich, der Phänomenologe, von ihr? Ich, der Theaterfreund und Cineast? Bald ist sie so farblos wie Diedrich, zwar nicht inhaltsdröge wie jener, aber auch nicht ausdrucksstark. Das Küssen schließlich kann Annerose allemal besser. Ich sehe mich schon wie vor zehn Jahren vor dem Albert-Schweitzer-Gymnasium stehen, und was dann?