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Das Fritz Brinckmann Buch 55

55. Kapitel

20.1.1978

Mein vormaliges Ziel - ran an die kleinen Mädchen! - habe ich, quasi als Nebeneffekt, erreicht. Gestern erfolgte der Vertragsabschluß mit Elenor. Zwischen zwei Terminen fand ich noch die Zeit, das vorgestern vereinbarte Rendezvous einzuhalten. Ich hetzte Ios, kam, vom Großstadtverkehr aufgehalten, viel zu spät (warum bewegt sie sich auch in einer Gegend wie Wandsbek-Duvenstedt-Großhoistenbüttel!), rannte ihr mit hängender Zunge entgegen und schleifte sie anschließend durch die Stadt.


Man sagte sich Nettigkeiten, wurde zärtlich, Kuß - und ab. Was heißt Kuß? Unsere Münder, unsere Gesichter koppelten und zerrten aneinander wie Gummipuffer, wie ausgefranste Verbindungsstücke mit der falschen Übersetzung. Was soll man schon beim erstenmal erwarten, nur: sehr flink finde ich ihre Lippen wirklich nicht.


Doch wie ging es mit der schönen Kolltochter weiter: es war ja so gewesen, daß ich, nachdem sie bei Kerzenlicht ihren Satz gesagt hatte, eine meiner Räuberpistolen erzählt hatte. Ich war sehr beflügelt gewesen, da ich ihre Aufmerksamkeit, ihren auf mich gerichteten Blick um jeden Preis festhalten wollte, und so wurde es eine wirklich bemerkenswerte Märchenstunde.


Es ging um den wilden Seekamp: Syphilis hätten alle, und sie ließen sie nicht behandeln, weil sie, verglichen mit den unsäglichen anderen Lastern, noch harmlos sei. Blendende Pracht, die man bisher in den Büchern des frühen Jack London über chinesische Opiumhöhlen vermutete, verneble den Blick und lasse einen Grenzgebiete zwischen Traum und Wirklichkeit betreten.


Ich erzählte, wie ich selbst ahnungslos den Seekamp betreten hatte und zunächst von den Mädchen fasziniert war, die mich unentwegt anstarrten. Ich wußte noch nicht, daß ihr Verhalten Teil einer Ideologie des Sexualwahns war, verbindliche Promiskuität, ausufernde Wollust, extensive Auslebung der Genitaltriebe, ich wußte noch nicht, in welches Sodom und Gomorrha ich geraten war, in welche Stätte der Perversion, der Phantasie, der Selbstzerstörung. Das ganze Gebäude, der ganze Komplex war in unglaublicher Art Weise verändert, die Keller waren in Tropfsteinhöhlen verwandelt, die Zimmer in ostindische Betstuben, die Gartenhäuschen in Kult- und Liebesstätten, in denen geliebt und geopfert wurde, der Dachboden war mit einem zehn mal zehn Meter großen Bett, in dem alle des Nachts schliefen, ausgelegt, und an jeder Ecke stand ein Fernsehapparat. So kam es vor daß alle zwölf Seekampmitglieder samt den vielen assoziierten Gästen am späten Abend gemeinsam und natürlich splitternackt einen Humphrey-Bogart-Film sahen. Besonders gern sahen sie Roman-Polanski-Filme, seitdem sie von seiner Verbindung mit Charles Manson und der Manson-Family wußten.


Manson gehörte ebenso zu ihrer Ideologie wie Okkultismus, Menschenopfer und Schlachtfeste, Sonnenwendfeiern und Kastrationsakte, Parapsychologie und Drogenexperimente. Durch Manson kamen sie auch zum Stechapfel, eine der härtesten Drogen, vielleicht die härteste Droge überhaupt, bei der man schon nach einmaligem Gebrauch bis zu 30 IQ-Punkte verlieren kann.

Die Kolltochter war wie gefesselt, ihre helldunkelvioletten Augen mit den nachtschwarzen schweren Wimpern bewegten sich nicht. Ich hatte nun aber gemerkt, daß sie seit einiger Zeit niesen mußte, und so hielt ich inne und ließ sie niesen. Es ging fast lautlos vor sich, wie das sehr ferne Wiehern eines Fohlens.


Ich erzählte weiter: Einen ausgebildeten Psychologen gäbe es da, der es sich zur Aufgabe gemacht hätte, die Leute zu „knacken“, wie er es ausdrückte. Er geht mit den Leuten um den großen Seekamp-See und provoziert und reizt sie so lange, ärgert sie, schlägt sie, reißt ihnen die Kleider vom Körper, imitiert ihre Gesten, verhöhnt ihre Verhaltensweisen, dringt mit Gestapo-Fragen und Gestapo-Methoden in sie so lange, so unerträglich brutal und perfide, beißend und penetrant, bis sie platzen, die Leute, bis der sogenannte Charakterpanzer zusammenkracht. Die Maske ist dann ab, so heißt es, und das wahre Ich tritt hervor. Mit mir hat er es versucht, hat mir 1000-Watt-Studio-Lampen ins Gesicht gehalten, mir die Beine auseinandergerissen und unerhörte Fragen gestellt. Doch ich konnte nicht antworten, weil die Drogen einen viel größeren Einfluß auf mich Ahnungslosen ausgeübt hatten als vorauszusehen gewesen war, ich war also dermaßen weggetreten, daß ich nicht einmal mehr sprechen konnte. Ich wußte nicht mehr, welches Mädchen mit mir schlief, sie stiegen wohl alle über mich hinweg und hinterließen mir die Syphilis.


Die meiste Zeit war ich unfähig, Worte zu artikulieren, konnte nur noch essen, trinken und vergewaltigt werden. Ich wäre noch heute im Seekamp, wenn mich nicht ein kleiner, unscheinbarer Gegenstand gerettet hätte: mein Notizbuch.


Eines Tages begann ich, als ich kurzzeitig den Bleistift halten konnte, meine Eintragungen. Wann immer ich in den folgenden Tagen das Bewußtsein erlangte, schrieb ich auf, was mit mir geschehen war. Um die anderen zu täuschen, nahm ich noch mehr Drogen als vorher, ließ mich auch von den Männern vergewaltigen und fiel über die Mädchen her wie ein Orang-Utan. Dennoch wurden die Phasen, in denen ich schreiben konnte, häufiger, und eines Tages war ich so weit, daß ich, fast aufrecht gehend, auf die Straße trat und einem Taxi winken konnte. Nur widerwillig ließ mich der Taxifahrer einsteigen, das Blut an meinen Händen und meine gesamte Erscheinung waren ihm wohl unheimlich. Ich hatte bis zuletzt Angst, er würde mich zur Polizeiwache fahren, aber er fuhr mich zu Annerose, die die Taxifahrt bezahlte und mich vorsichtig die Treppe hinaufführte. Ich hatte 45 IQ-Punkte verloren und nur noch ein schwaches Bewußtsein meiner selbst.


Ich mußte wieder lernen, mich eigenhändig anzuziehen und die Menschen im Straßenverkehr nicht ständig anzufassen. Ich wußte nicht mehr, wie man Auto fährt, und daß man nicht in die U-Bahnschächte laufen soll, weil man überfahren werden könnte. Ich hatte den Namen meiner Eltern vergessen und die Tatsache, daß ich Student war. Daß ich dem Taxifahrer Anneroses Adresse geben konnte, lag daran, daß ich die letzten dreieinhalb Wochen über nichts anderes nachgedacht hatte. Es war mir eingefallen, als ich aus einem Traum durch lautes Katzengekreisch gerissen wurde. Mit klammen Fingern zog ich das zerfledderte kleine Notizbuch hervor und versuchte, diesen Eindruck festzuhalten. Es ging aber nicht. Ich war zu bekifft, um die richtigen Buchstaben zu finden, und so malte ich einen Katzenkopf hin und erinnerte mich zwei Tage später, als ich endlich einmal für zehn Minuten bei Bewußtsein war, anhand des Katzenkopfes an den Straßennamen.


Die Kolltochter sah mich noch immer an, und ich ließ es mir gern gefallen. Nur zu ihr sprach ich und ließ Antje links liegen. Ich schloß meine Erzählung mit der Bitte, den Seekamp noch einmal, und zwar mit Antje und der Kolltochter als Schutzbegleitung, betreten zu dürfen. Nun riß die Kleine die Augen auf und äußerte große Angst. In dem Moment ging die Tür auf und ein Mensch kam ins Zimmer, ein undefinierbarer Kerl, langhaarig und auf unangenehme Art verkrampft. Er mochte so alt wie ich sein, lief sehr schnell auf die Kolltochter zu und redete auf sie ein. Ob sie nicht aufstehen wolle, wie es ihr gehe.


Es ging darum, daß Antje und dieser Kerl an diesem Abend die „Roadshow“ besuchen wollten. Würde die Tochter mitkommen, hieße das, daß sie auch mit mir den weiteren Abend verbrächte. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, ich wußte nur zu gut, daß sie ja sagen würde, hehe.


Sie ließ sich Zeit mit der Antwort, gähnte unhörbar und räkelte sich vornehm. Dann stand sie auf. Der Kerl ging staksend aus dem Zimmer, denn sie hatte nur einen kleinen blütenweißen Slipper an. Wie kommt es nur, daß es immer gerade die besonders hübschen Mädchen sind, die nackt und arglos im Zimmer stehen? Ich schwöre, daß sie sich nichts dabei dachte. Ich blieb also ebenso arglos sitzen, verhielt Mich ganz natürlich, jubilierte innerlich bei der Feststellung, daß sie einen ebenso makellosen Körper hatte wie Annerose.


Gut, DIE soll es sein, beschloß ich. Ich wandte mich an Antje, die still und traurig wirkte. Ich sah sie fragend an. „Du hast nur zu ihr gesprochen", sagte sie.


Es tat mir leid. Das Traurige stand ihr sehr gut. Klänge es nicht so verstaubt, könnte man sagen, sie wirkte rein und lauter. Ich sagte es schon: Die Mädchen hier sind so aufrichtig, man kommt sich zwangsläufig schlitzohrig vor.


Wir gingen zu zweit nach unten. Der Kerl flitzte an uns vorbei, hoch zur Kolltochter. Sekunden später hörten wir Geschniefe und Geweine, herzerweichende, langgezogene Schnieftöne, Nasenheultöne. Was hatte der miese Kerl getan? "Sie ist sehr empfindsam, es hat nichts zu bedeuten. Sie weint sehr oft." "Ganz ohne Grund?" "Ja. Jeden Tag."


Wir mußten dann leider ohne sie zur "Roadshow" fahren. Ich bekam weder sie noch ihren Schweinefreund noch einmal zu Gesicht.

Antje erzählte einen Tag später, sie habe ihr verraten, daß meine Seekampgeschichte frei erfunden war. Daraufhin soll das Mädchen erneut in Tränen ausgebrochen sein.







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