59. Kapitel
24.1.1978
Gestern Annerose wiedergetroffen.
Sie sprang an mir hoch wie ein junger Hund. Erstmals, da wir uns tagelang nicht gesehen hatten, fielen mir ihre vielen Sommersprossen auf, das ganze Gesicht ist ja voll davon, sehr lustig.
Bei der vorwiegend sensuellen Ausrichtung ihrer Sinnesorgane blieb ihr gar nichts anderes übrig, als mich mit Händen und Füßen in einen Hauseingang zu drücken und mich von oben bis unten zu befingern, an mir und um mich herumgleiten, mich zu umfließen wie ein Meerestier glattschimmernde Muschelbänke. Verschlungen und verknotet bewegten wir uns ins nächste Café, Annerose summte: „... ich kann lieben nur und sonst garnichts...“, und im Café holte sie ihre neuen Fotografien aus der Tasche. Sie sei jetzt doch Fotografin.
Ich sah mir die Sachen an. Zwei gute Bilder, mit Atmosphäre und Fremdheit, der Rest: Ali streckt die Zunge heraus, Ira macht das Peace-Zeichen, Thorsten fährt mit dem Auto davon, "lustige" Passanten machen Faxen... dann wieder Lojobilder, auf zwei mal zwei Meter vergrößert, Lojo mürrisch, Lojo als später Marion Brando, Lojo als Mick Jagger.
Annerose fiebert vor Aufregung, zappelt auf ihrem Stuhl, ich muß ihren Kaffee abbestellen und stattdessen Kakao nehmen, sie will unbedingt wissen, was ich von den Bildern halte, ob sie eine große Fotografin sei. Sie ist wirklich wie ein junger Hund, und ich soll unbedingt Stöckchen werfen. Ihre Zunge hechelt bis auf die Tischplatte, und ich beginne mit langen Ausführungen, Lob und Tadel, Ratschlägen, Ermahnungen. Dann gehen wir, und sie ist ganz glücklich, winkt noch lange nach, wie bei einem Abschied auf dem Bahnhof.
Stunden später: Es war schon dunkel (morbide!), als ich das alte Gymnasium betrat (jenes Albert-Schweitzer-Gymnasium, an dessen Pforte ich als Kind vor zehn Jahren, 18, Isabelle Hofmann abzuholen pflegte...). Klobig lag der Griff der alten schwarzen Tür in meiner Hand und, wie zu erwähnen ich mich bereits nicht zu entbrechen vermochte. Es dunkelte schon. Jetzt, da ich mich zurückversetze, will es mir scheinen, als habe ich vor Dunkelheit nicht die Hand vor Augen sehen können. Ich folgte einem Lichtspalt, der von weit her durch die Korridore fiel, sich vielfach brach und für mich mehr zu erahnen als festzustellen war.
Ich gelangte zur Aula, einem großen schwarzen Raum, dessen Umrisse nur zu vermuten waren. Das Licht kam aus einem Scheinwerfer, der auf die Bühne gerichtet war und Elenor umgleißte, die, zusammen mit einer Theatergruppe, ein Stück von Moliere probte. Ich ließ den schweren Mantel von den Schultern gleiten, legte ihn über den linken angewinkelten Arm und betrat maßvollen Schrittes die alte Aula.
Der Beruf des Schauspielers muß ein wunderbarer sein. Ich konnte erleben, wie den Kindern das Aussprechen der Worte eine zweckfreie, vergnügliche Lust bereitete. Elenor verließ die Bühne, setzte sich zu mir. Ich raunte ihr zu, daß sie, mit ihrer Größe und den seitlich zurückgesteckten Haaren eine auffallende Erscheinung gewesen sei, die die anderen habe murkelig wirken lassen, daß ich aber nur etwa zwanzig Minuten Zeit habe.
Eine gewisse, aus Behaglichkeit und einem Anflug von Süffisance bestehende Lust durchlebte ich, als ich mir einen Kuß munden ließ und die anderen Kinder ihre Rollen daraufhin nur mit Mühe weiterspielen konnten. Ich lehnte mich zurück, zog Elenor an mich, atmete den natürlichen Duft ihres langen blonden Haares, der sich mit dem Aroma meines süßlichen Parfüms gut vertrug. Ja, so war das Leben, hier, in der dunklen Aula, konnte man Elenor für schön halten. Vielleicht wächst sich ihr Gesicht noch zurecht, zwei, drei Jahre, dann wüßte man mehr, aber so lange warten? Ach, Schönheit: Nicht jeder hat sie, da ist die Natur unerbittlich. Ich sah sie versonnen an, zeichnete ihre Gesichtslinien nach, ihre Augenbrauen, und während ich nachdachte, wie man sie ändern müßte, um das Gesicht zu retten, wähnte sie in meinem Tun große Verliebtheit.
Dann wollte ich gehen, und sie sagte atemlos: Ich komme mit: Wie unangebracht - ich wollte in die andere Richtung, zu Antje, mußte aber nun in Richtung Universität fahren, weil ein 'wichtiges Seminar' mein Alibi gewesen war. Langeweile und ein - durchaus noch erträglicher - Überdruß in der U-Bahn. Ich stellte meine Routinefragen und gab selbst die Antworten. Ich plapperte, aber diesmal ohne Phantasie, ich betrieb Konversation (was ich sonst nie tue). Trotzdem lachte sie manchmal auf, fand mich herrlich, strich unentwegt über meinen Arm (eine der wenigen Sachen, die ich an ihr mag) und sah mich verliebt an.
Was der Situation Spannung gab, war die Frage, ob sie bis zur Uni mitkommen und somit mein Alibi auffliegen würde. Sie tat es. Meine kostbare Zeit: Ich hätte längst bei Antje sein können: Der ganze lange Weg zurück, Hallerstraße, Schlüterstraße, Philturm, 4. Stock, Zimmer 473. Das war natürlich leer, es war etwa 18 Uhr dreißig. Ich wußte daß es leer war, hatte den Griff in der Hand, öffnete aber nicht, weil ich nicht wußte, was danach zu sein sei. Elenor sah ganz so aus, als hätte sie noch SEHR viel Zeit.
Ich drehte mich zu ihr: „Elenor, Peter Rühmkorff ist da drinnen, der große deutsche Lyriker, es ist vielleicht doch besser, wenn du nicht mit reingehst. Sehr große Sache, weißt du, wichtig für die ganze Uni, laß uns lieber vorsichtig sein, hm?“ Sie nickte und trat zwei Schritte zurück. Ich faßte mir an die Brust, da ich stark atmete, vor verständlicher Aufregung, nicht wegen des großen Lyrikers, wie Elenor glaubte, sondern wegen der Angst, sie könnte wieder nähertreten. Doch sie blieb stehen, und ich schlüpfte kurz entschlossen durch die Tür ins leere Zimmer.
Da wartete ich dann, setzte mich, knipste Licht an, rauchte zwei Zigaretten. Ob sie die zwei Stunden dieser fiktiven Veranstaltung einfach abwarten würde? Das war nicht unwahrscheinlich. Ich traute mich nicht hinaus, wurde dann aber sehr müde. Draußen würde Elenor stehen, ich würde ihr eine Gallenkolik vorspielen und unten ein Taxi winken. Dann würde sie mitfahren und mich pflegen wollen. Ach, egal, Mann!
Ich machte die Tür auf: im Flur stand sie nicht. Ich lugte die Ecke: auch da nicht. Ich schlich die Treppen hinunter. Im Foyer: vier Elenors, aber nur auf den ersten Blick, vor lauter Schreck. Ich trete aus der Schwingtür, raus auf den Campus: niemand zu sehen. Ist es möglich? Ich gehe weiter, unsicher staksend. Schlüterstraße, Hartungstraße. Da steht Mamis Auto. Nur noch wenige Meter bis dahin, den Schlüssel habe ich schon in der geballten Hand. Kurze Drehung, schwupp, aufgeschlossen, klatsch, Tür zu, Zündung anstellen, Gas geben, Gang einlegen, Blick geradeaus, so als sähe ich sie nicht, und los! Noch zwei Ampeln, dann, Klosterstern, liegt es hinter mir.
Kurzer Nachtrag: Unmittelbar VOR dem letzten Treffen mit Anette Koll lernte ich noch ein weiteres Mädchen kennen, eine Anna-Maria, ein reizendes Persönchen. „Einer plötzlichen Eingebung folgend“ bremste ich vor der Tanzschule Wendt, Rothenbaumchaussee. „Mal sehen, was sich da so rumtreibt“, dachte ich, der wahre Grund aber war die Teufelin von der Schmusefete, hatte ich doch herausgekriegt, daß sie bei Wendt den Bronze-Kurs in Rock’n‘Roll mitmachte. Satanisches Weib... die würde mich fertig machen, hehe, dachte ich und sah die Lederfrau aus der Roadshow wieder vor mir wie sie, laut mit der Peitsche knallend, mit weit gespreizten Beinen über mir stehend, das Butterbrot in meinen Mund stopft. Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Ich nicht. Mal sehen, wer wen fertig macht. Keine Puppen mehr. Es macht doch nur Spaß, wenn man irgendwo noch einen Lehrmeister hat, und DAS wäre sie... Wie sie ihren Freund abgerichtet hatte, das war ganze Arbeit gewesen, ....o ich schlendere hinein, "überhöre" die Aufforderungen, meine Mitgliedskarte zu zeigen. Ein resolutes Fräulein muß mich aus einer entfernten Ecke herauspicken. "Ich bin Frau Wendt, Was wollen Sie?“
»Ich fange demnächst einen Kurs bei Ihnen an und da wollte ich - "
„Nein. Raus! Geschlossene Veranstaltung.“
„Sie sind Frau Wendt? Aber dann habe ich ja mit IHNEN gesprochen!“
„Sie haben nicht mit mir gesprochen, ich habe nämlich mit niemandem gesprochen, gehen Sie jetzt –„
„Sind Sie wahnsinnig?! Ich habe doch mit einer Frau Wendt telefoniert..
„So, ja, es gibt eine zweite Frau Wendt, meine Schwiegermutter...“
„Ja, genau. Wenn Sie mich bitte zu ihr führen möchten.“
Das ging nicht, weil sie nicht da war, aber man gab mir Mitgliedsformulare und behandelte mich zuvorkommend. Ich durfte also bleiben und die Suche nach dem Terrormädchen von der Schmuseparty konnte starten. Tja, Mann, was machst du, wenn du in so 'nen Laden mit hundert blonden Hasen kommst und sollst auf eine einzige von den Puppen achten? Verstehst du, das geht nicht. Eh du dich versiehst, hast du die erstbeste Schnalle im Arm, die du gar nicht haben wolltest, und vergißt, was du eigentlich gesucht hast. Tja, Freund, wer will da pingelig sein, so ist das.
Da war also diese Anna-Maria, sehr aufgeweckt, neugierig und kapriziös, wenn ich das mal so sagen darf. Wir gingen zur Bar: „Gibs hier keinen Alkohol?“ Nein. Also gingen wir in den Wintergarten, ich trank einen doppelten Chevas Regal und kam enorm ins Schwätzen.
„Ich hoffe, ich habe dich nicht gelangweilt, aber wenn ich Whisky trinke...“
Nein, ich hatte sie nicht gelangweilt, ganz im Gegenteil. Nettes Dingelchen, wirklich, und völlig sichere Sache. Muß sie nur noch anrufen.
Und jetzt reine Fiktion: Treffen mit der Teufelin morgen, gegen Abend. Was muß vorher passieren: Ich werde Elenor zur ersten und zweiten großen Pause besuchen und dabei den Schulhof nach dem Terrormädchen absuchen (welches auch auf diese Schule geht). Glücklich, wenn ich es sogar eher entdecke als Elenor und ein paar Augenblicke unter vier Augen sprechen kann. Ich werde sagen: Macht dein Freund auch den Rock'n' Roll-Bronze-Kurs? Holt er dich ab? Nein? Dann hole ich dich ab.
Oder ich frage sie, ob sie einen Warentest mitmachen möchte, ein Interview für eine neue Rock`n`Roll-Spezialzeitschrift. Dann lasse ich mir Namen und Telefonnummer geben. Es wird sehr schwierig sein, fast unmöglich. Vielleicht muß ich alles fallenlassen und Elenor sogar dafür einspannen: „Liebling, wir achten uns, sind miteinander verbunden, aber Heirat? Ehe? Nein, dafür ist das Terrormädchen da. Laß sie uns suchen!.“ (Mal über alles nachdenken.)
Klappt das nicht, so gehe ich mit Anna-Maria abends zu Wendt und sehe da nach. Ist sie dort nicht, so muß ich Anna-Maria verführen, um dann, gegen 20 Uhr, 20 Uhr dreißig, in Fahrt zu sein und Anette anzurufen. Ist diese da, wird sie mich wenig später treffen. Wir fahren dann, je nach Durchschlagskraft, an die Alster oder an die Elbe. Dort gehen wir spazieren (vorher können wir unterwegs beim Seekamp einkehren). Der Spaziergang ist wohl doch das Wichtigste. Interessante Männer müßte man ihr zeigen können, aber wo sind die? Also bleibt es beim Reden, und das müßte ich einmal fiktiv durchspielen.