62. Kapitel
27.1.1978
Elinor und kein Ende: Schließlich kam sie aus der Fahrschule, es war der helle Blödsinn... Ich riß, wenn immer ich daran dachte, die Augen auf, versuchte, ein "lachendes Gesicht“ aufzusetzen, auch erlebten wir "Abenteuer" und -
Trotzdem senkte sich der Abend zum Schlechten. Elenor äußerte, sie fühle sich so „beengt“, sie wolle aus dem Auto springen, doch auch die Straßen waren ihr so eng, die ganze Stadt. Wir sahen „Unterm Holderbusch (das einzige, zumindest beste filmische Dokument aus der prärevolutionären Zeit, London 1965, Carnaby Street, Minirock und Beatles... die Gymnasien, damals noch exklusiver als heute, waren die Zentren der neuen Kultur, da, wo die Kinder des Wirtschafts-wunders heranwuchsen). Es war ein Glückstreffer, dieser Film, aber hinterher, nach dieser Verschnaufpause, ging die Pflicht wieder los.
Ich schnaufte, nahm Anlauf, und verpaßte ihr einen Fünf-Minuten-Kuß. Das war vor dem Auto. Ich ließ von ihr ab, schloß die Tür auf und ließ mich wortlos in den Sitz fallen. Dieser Kuß... ich hatte es ja von Anfang an gewußt: blonde Mädchen aus Ostpreußen riechen aus dem Mund. Es war das erste, was ich dachte, als ich Elenor sah: Traute Behrendt's Mundgeruch.
Weiter ging es. Sie fühlte sich schon wieder beengt. Wir fuhren zu mir. Elenor rannte die Treppen hoch wie Orson Welles in „Der dritte Mann“, bis zum Dach. Ich stand staunend unten, mit eingefallenen Schultern, leise durch die Zähne pfeifend. Imponierend, wie sie sich abreagierte.
Sie sagte: „Ich muß irgend etwas machen, es ist ja schrecklich ... am liebsten würde ich schreien“: Das gefiel mir. Wir waren, um es offen zu sagen, in der Hartungstraße.
Ich erhob mich. Okay, dachte ich, machen wir die gute alte Hartungstraßentour, mal sehen, ob es noch geht. Ich wurde für eine Sekunde wehmütig. Mein Gott, wieviele Mädchen waren vor ihr in der Hartungstraße gewesen ... Mal los, keine Wehmut, Arbeit ruft. So vieles hatte sich verändert in der Wohnung, sogar das wichtigste fehlte: Rolling-Stones-Musik. Es klappte trotzdem (WIE, siehe Tagebücher 2, 3, 6, 7 und 10). Ich fuhr sie nach Hause, und sie war glücklich. Ich auch. Tja, Leute, ich war wieder auf dem Dampfer, im Ernst, ich war wieder einsatzfähig. Sollte ich es jetzt gleich anpacken, Anna-Maria, Anette ...? Nein, ich fuhr nach Hause, rauchte eine dicke Zigarre wie Edward G. Robinson und ruhte. Was für ein Tag ...
Später kamen noch einige Anrufe, Schmusetier André Rademacher kam vorbei, aß Dickmilchjoghurt mit mir bis ihm das Gesicht in den Teller sackte (ich half ihm hoch und bestellte ein Taxi), und dann, als kleine Belohnung für den anstrengenden Tag, spendierte ich mir noch Kino: „Jenseits von Gut und Böse“, ein grandioser Film. Nietzsche als Pornograph, Lu Salomé, Richard Wagner, Paul Ree, Venedig und Berlin des 19. Jahrhunderts, sehr aufwendig und aufmerksam rekonstruiert. Völlig neue Mischung aus Historienfilm und Pornostreifen nach dem Motto: was macht eine marxistische Regisseuse, wenn sie einen Sexfilm drehen will? Sie verlegt die Handlung in die Metropolen des Imperialismus des späten 19. Jahrhunderts und läßt alle bürgerlichen Philosophen als Perverse auftreten. Nun hat sie, Liliana Cavani, dank ihres Namens auch noch 12 Mill. Dollar Produktionsgelder gekriegt, mit denen sie ja kaum etwas anderes machen konnte als sie in die Ausstattung zu stecken. Folge: der Film wirkt echt, naturalistisch, die Empörung ist vollkommen: Dreiviertel des Abaton-Publikums verlassen schwer atmend den Saal.
Ich ging dann nach Hause, ließ mir Zeitschriften, Zigaretten und Dickmilchjoghurt ans Bett bringen, letzterer verhalf mir augenblicklich zu tiefem Schlaf. Und heute bin ich besser dran als gestern, eigentlich richtig ausgeschlafen und frei.