66. Kapitel
8.2.1978
Ich sitze gerade an Stephan Ohrts Schreibtisch, hoch über Hamburg, Leopoldstraßengefühl. Es dämmert (dunkelblauer Himmel mit roten Schlieren), Autoscheinwerfer, Geschäftsauslagen, ein Düsenflugzeug startet und blinkt, viele Menschen, die U-Bahn. Nie habe ich etwas gegen diese Welt gehabt, das ist ja das Verrückte. Selbst in den grauesten Situationen habe ich nicht eine Sekunde lang etwas von meinem Optimismus verloren, prinzipiell. Man muß nur wollen. Wer nörgelt und über mieses Wetter und dergleichen schimpft, hat seine Augen an den falschen Stellen. Seit 23 Jahren dieser ungebrochene, tiefverwurzelte, auch gar nicht idealistische Optimismus, und doch dieses Vorbeileben an der Welt. Immer bereit, die Schokoladenseiten zu sehen und wahrzunehmen, nie bereit, den Schmutz zu bemerken und mitzumachen. Und dennoch: zunehmende Untätigkeit.
17.2.1978
Jeden Morgen bringt man mir eine ganze Kanne schwarzen Kaffee ans Bett. Jeden Tag bin ich Punkt neun Uhr coffeingeladen. Die nächsten zwei Stunden bin ich wach. Ich lasse mich in die Universität fahren. Dort lese ich ein Buch, bis die Müdigkeit zurückkommt. Ich merke es daran, daß ich die Zeilen nicht mehr mitlese. Dann erhebe ich mich, stelle das Buch zurück und suche Ablenkung, gehe in ein Seminar, treffe Mitstudenten, trinke noch einen Kaffee, fahre Elenor besuchen oder Sephan T. Ohrt. Theoretisch kann ich auch Sport treiben, einen Brief schreiben oder mir wichtige Gedanken machen oder die Doktorarbeit schreiben. Sogar könnte ich ein Auto kaufen und einen neuen Anzug, ich könnte ein Telefonbüchlein haben und ständig mit vielen interessanten Leuten telefonieren. Das alles könnte ich, es liegt ganz im Bereich meiner Möglichkeiten, doch tue ich es nicht, weil ich gänzlich lustlos bin. Stattdessen besuche ich häufig Stephan T. Ohrt, wie gestern. Die Tür war auf, ich trat ins Zimmer, Stephan saß wie ausgestopft in einem Ohrensessel, die Arme auf die langen Lehnen gestreckt, die Augen starr, den Mund offen.
Er steckte in einem neuen seidenen Bademantel. Ich setzte mich neben ihn. Wir hatten uns zum Frühsport verabredet. Stephan, du siehst aber grün aus, laß uns mal schnell an die frische Luft gehen!"
Stephans Gesicht war wirklich giftgrün und dazu mit Pickeln entstellt. Sein Kopf wackelte. Er klappte eine Hand nach oben, die Finger zitterten für eine Sekunde über der Lehne, dann klappte er die Hand wieder zurück. Im Rücken schien er ein Messer stecken zu haben. Endlich brachte er hervor, es sei besser, wenn ich wieder ginge. Ich sah ihm spöttisch ins Gesicht. Dieser alte Hypochonder! "Alles nur Trick,“ schien ich ihm zu sagen. Daraufhin riß er die Augen auf, faßte sich ans Herz, keuchte, krümmte sich zusammen, fiel zu Boden, schleifte auf allen Vieren hin und her, es war also zweifellos alles echt, so perfekt konnte man es nicht spielen. Er schien wirklich Todesangst zu haben, andererseits lachte er auch, er keuchte, würgte und lachte. Er war jetzt vor dem Globus, dieser großen Schale mit den Kontinenten drauf. Er begann zu spucken, sich zu erbrechen, hinein in die Welthalbkugel. In zehn schrecklichen Stößen erbrach er alles, was in ihm war, Magen, Darm, Blut, Speichel, Eiweiße und Zellstoffe, die ganze große Welthalbkugel voll. Zwischen den Stößen lachte er laut und quietschend. Ich rannte hin und her, wußte nicht, wie ich ihm helfen sollte, zückte schließlich mein Notizbuch und schrieb mir die Szene in Stichworten auf.
Nach dem zehnten Stoß lachte Stephan nicht mehr, sondern fiel mit Kopf, Oberkörper und Armen erschöpft und ausgepumpt in die volle Welthalbkugel. Endlich wurde es ruhig im Zimmer, friedlich schwamm Stephans Oberkörper in dem Erbrochenen, er schien leicht geworden zu sein. Ich notierte: war es ein Kreislaufkollaps, Nein, es war das Auseinanderfallen von Ich und Welt, das sich endlich physiologisch bemerkbar machte, nachdem es lange im Bewußtsein - ich blickte hoch - still schwamm sein Kopf in der Schale - ich f.ng noch einmal an: das Auseinanderfallen des Bewußtseins die Teile tödlich getroffener Weltreiche - Stephan stemmte seinen erleichterten Oberkörper aus der Brühe.
Ich ging zu ihm und stützte ihn, half ihm auf die Beine. Mit ein paar Handtüchern, die ich ihm brachte, säuberte er eigenhändig sein Gesicht und seine Haare. Dann lachte er wieder und ich wurde davon angesteckt. Mir kamen dabei die Tränen. Eigentlich darf man das keinem erzählen. Stephan brachte hervor, er wolle seine Einrichtung zerschlagen, er sei ja wohl ein Idiot gewesen, alles Ton-in-Ton und weiß einzurichten, alles Quatsch.
°Die Einrichtung wird wohl bleiben., sagte ich, °wenn du noch etwas zerstören willst, mußt du mit der Pluto-Papp-Hundehütte vorliebnehmen.“ Stephan keuchte: "Oh, ein Arzt - ein Arzt - ein Arzt .... Also doch. Ich versprach, einen zu holen. „Dazu brauche ich deinen Krankenschein. Stephan, wo ist der?" "Bei meiner Mutter, Abteistraße 22."
Ich verließ die Wohnung, fuhr mit der U-Bahn zu Inke. Man empfing mich mürrisch. Na, denen wird das Phlegma vergehen, dachte ich, setzte Angstaugen auf und erzählte das eben Erlebte. Inke saß nackt auf dem Bett, schnellte hoch und machte sich in zwei Minuten fertig. Walter Thielsch, Inkes Liebhaber, ein sozusagen gutaussehender Mann von Mitte Zwanzig, aber sicherlich ein verkrachter Nichtstuer mit Luftblasen im Kopf (so wie ich), näherte sich mir, stellte unbeholfen ein paar Fragen. Ob es mir gut gehe, was ich beruflich mache. Inke und ich fuhren zu Stephans Mutter, holten den Krankenschein. „Stephan liegt im Sterben?" Die Mutter geriet aus dem Häuschen, reagierte wie ein verschrecktes Huhn. Ein Brechmittel, diese Mutter, die würde Stephan den Rest geben, dachte ich, verharmloste die Sache und zog Inke aus dem Haus.
Wir riefen das Krankenhaus an und man schickte einen Unfallwagen. Kräftige Sanitäter schnallten Stephan auf die Trage, trugen ihn die Treppe runter und fuhren ihn weg.