67. Kapitel
16.2.1978
Nicht nur Stephan kämpft mit dem Kreislaufcollaps. Auch ich bewege mich jeden Tag schwerfälliger. Aber die große Feier bei Lickfetts, Elenors Eltern, wollte ich mitnehmen. Dunkler Anzug, polierte Schuhe, Krawatte, Manschettenknöpfe. Ehering abnehmen…
Warum hatten sie mich eingeladen? Hielten sie mich tatsächlich für den richtigen Umgang für ihre Tochter? Dann konnten es kaum so feine Leute sein, wie ich annahm. Ulf Bertheau hätte es mir sagen können.
Café Randel in Wellingsbüttel. Entspricht dem Jacobs an der Elbchaussee, heißt es. „Geschlossene Gesellschaft“, lese ich. Holztäfelung, Kaminfeuer, Bücklersgardinen gewaltig drapiert, Kerzen, zehn Zentner Silber, an der Decke Gold. Unmögliche, bauchige Leuchter, sehen aus wie versteckte Weltkrieg-II-Bomben.
Familie Lickfett und ich sind die ersten. Bange wird mir, wenn ich ans Tanzen denke. Ganz ohne Koketterie kann ich sagen, daß ich nichts so wenig kann wie tanzen. Frau Lickfett: „Sie tanzen doch, Herr Loriot! Sie können nicht tanzen? Ach was, es wird schon gehen, es muß. Wir mögen es nicht, wenn jemand nicht tanzt.“
Ich bewege mich gläsern auf die Garderobe zu, auch Elenor ist unsicher. Ich helfe Frau Lickfett aus dem Nerz und stoße dabei mit Herrn Lickfett zusammen, der dasselbe will. Währenddessen ist Elenor allein aus ihrem Nerz geschlüpft, ich trete hastig zwei Schritte zurück und zermalme mit dem Absatz, dem präzisen rechten Absatz der neuen schwarzen Stephan-Ohrt-Schuhe Elenors entblößte und gelackte Zehen. Ein Schrei. Ich tue so, als habe ich nichts gemerkt. Dann nehme ich mir wild entschlossen vor, natürlich zu sein.
Was will ich hier, was verspreche ich mir von diesem Abend? Ich will souverän sein! Es soll mir nicht SO peinlich werden, daß ich es nicht mehr genießen kann. Sollte ich diesen Punkt erreichen, werde ich Skandale inszenieren. Die ersten Gäste kommen, ich werde vorgestellt: "Das ist der gekannte von Elenor, ich weiß von ihm nur, daß er Loriot oder so ähnlich heißt.“ Mit dieser lustig gemeinten Floskel steilt mich mein Schwager in spe dreimal vor, bis ich ihm zuraune, ich sei Joachim und ein Freund des Hauses.
Ich muß einige Anfangsschwierigkeiten überwinden, zum Beispiel leide ich unter der Vorstellung, mein Glas könnte mir aus der Hand gleiten. Ich halte es in der Linken, während ich die rechte Hand leger in der Hosentasche lasse, um sie zu trocknen. Den langen bunten Reigen der Fauxpas leite ich mit folgender Szene ein. Frau Lickfett: „Na, sie fühlen Sie sich wohl hier“ Ich: "Oh, ja, ich ... mag das, ich gehe gern auf Beerdigungen, ich meine: AUCH auf Beerdigungen, dies hier ist ja keine, sondern sozusagen das Gegenteil ... ich meine, ich mag solche Veranstaltungen, das Festliche ...“ Sie hatte sich bereits abgewendet.
Es waren vierzig geladene Gäste (die auch alle erschienen) mit Tischkarten und Smoking. Sechs Kellner und zwei Geschäftsführer sowie Herr Randel selbst organisierten das etwa dreistündige Essen. Meine Tischdame fragte mich, wie noch so viele an diesem Abend (offenbar hatte ich etwas an mir, das diese Frage herausforderte): „Gefällt es Ihnen denn?" Ich sagte: „Es ist unglaublich, in welcher Reinkultur die Bourgeoisie bürgerliche Lebensformen am Leben erhält. Sehen Sie sich um - nichts, wirklich NICHTS läßt ahnen, daß wir 1,78 und in einer durchrationalisierten Leistungsgesellschaft leben." Die Tischdame meinte, man müsse die Feste feiern wie sie fallen. Es sei gut, daß ich so etwas einmal miterleben könne.
Jetzt wurden Toasts ausgebracht, Reden gehalten. Ich glaubte, nicht richtig zu hören: Direktimport aus den dreißiger Jahren, Tadellöser & Wolff, uns gehts ja noch gold. der gutbürgerliche Tonfall der Gartenlaube, Goethe-Zitate und Schiller, Lessing, die alten Griechen, dann kam die Damenrede, sinnfällige Vergleiche mit der Welt der Blumen, der Welt der Tiere und schließlich wieder der Welt der Antike.
Es wurde gedankt und bewundert: der Liebreiz, die holde Weiblichkeit, die besseren Hälften, denn das Ewigweibliche zieht uns hinan. Prosit und nochmals Dank und Gegenrede, es wurden sechs Laudationes gehalten und ungezählte kleine Toasts ausgebracht. Am Tisch sprach man NICHT über den Krieg, der hatte offenbar noch nicht stattgefunden, diese Gesellschaft war frei von dem spezifisch kleinbürgerlichen zu, der Bücklers-und sonstiger Kriegs-und Krankengeschichten-Gesellschaften.
Es wurde getanzt. Ich forderte mehrere alte Schachteln auf in der Hoffnung, man würde alle Ungelenkigkeit in der Dame oder in der ungleichen Paarung sehen. Die Damen bedankten sich immer schon nach dem ersten Tanz, keine tanzte länger als drei Minuten mit mir, aber der Abend dauerte noch viele Stunden.
Elenor wurde vom Präsidenten des Golfclubs und Vorstands von Pelikan umschwärmt, einem flotten Mittvierziger. Übrigens mochte ich kaum an die Information glauben: So sieht also ein Vorstand der Pelikanwerke aus? Einmal kam ich mit ihm ins Gespräch. Er musterte mich immer aus durchtriebenen, blassen Äuglein, war mißtrauisch und ein bißchen zu „flott“. Kein souveräner Mensch, keiner, vor dem ich Respekt hätte. Ich sagte also: „Sind Sie wirklich Vorstandsvorsitzender der Pelikanwerke?“ Er musterte mich wieder und fragte nach den Motiven dieser Frage. Die verriet ich ihm natürlich nicht (noch war die Zeit zum Skandal nicht gekommen), und er ging wieder mit Elenor tanzen.
Am liebsten waren mir die betrunkenen alten Bosse, mit denen ich über Autos und Reisen sprach. Das klappte so richtig. Elenor sah reizend aus, sie war der Blickfang, die Köstlichkeit des Abends, die einzige Frau unter dreißig, fast die einzige unter fünfzig. Da war es schon ärgerlich, daß dieser Herr Loriot die meiste Zeit mit ihr in den Gängen verbrachte.
Es wurde langweilig, ich hatte zuviel getrunken und geraucht. Herr Dr. Bach wollte mir Bridgespielen beibringen. Elenors Schwester sprach davon, wie gerne sie so wenig etabliert wäre wie ich, Elenors Schwager verbreitete Hannes-Alpheis-Humor. Ich trank zwei große Whiskies und erzählte Geschichten, wie ich zehnmal um den Klosterstern gefahren bin und die Polizei dazukam, wie ich früher in Nachbars Wohnung eingestiegen bin, über das Malergerüst, und die Nachbarin mich für einen Einbrecher hielt.
Einige ganz wenige Damen waren richtig freundlich zu mir, einige Herren waren gutmütig und arglos, meistenteils aber wurde ich nicht beachtet, da ich nicht tanzte, und war wohl auch wirklich, als einziger Herr unter Fünfzig, fehl am Platz. Die Frage ist, ob ich mich jetzt besser in solch einer Gesellschaft bewegen kann. Wäre es gleich morgen, bestimmt. Benehmen ist erlernbar. Eine plausible Geschichte, ein gutes Essen, tolle Getränke - man kann eigentlich wenig falsch machen. Insgesamt war ich gern da. Ich glaube, ich sollte weiter in diese Richtung gehen. Ich sollte mich scheiden lassen, Elenor heiraten und im NDR arbeiten. Erstmal nach oben, so, wie Fritz Brinckmann es versprach. Diese Kraucher, dieses Bafög-Milieu, dieses Versacken als Gärtner à la Olaf Moll, das linke Gesabbel von Polizeistaat - wie lästig!
Übrigens hatte ich auch den Anzug von Stephan T. Ohrt geliehen. Er lebt noch und erzählt hübsche Krankenhausgeschichten. Man steckt ihn von einer Klinik in die andere und versucht, ihn für psychisch defekt zu erklären. Es überraschte mich, wie gut und „trennscharf“ Stephan erzählen kann, es scheint ihm alles tatsächlich Spaß zu machen.