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Das Fritz Brinckmann Buch 71

71. Kapitel

Auf dem Balkon stehen und schwarze Zigaretten rauchen. Im 9. Stock wohnen und niemanden grüßen müssen. Alle Welt ist so langweilig, so durchschnittlich, so dröge - da muß ich einen Diedrich einfach bewundern, wenn er frisch und einfallsreich bleibt. Er akzeptiert die Durchschnittlichkeit, bearbeitet sie, montiert sie zu neuen Kombinationen. Ich dagegen: zu wenig Gegenwelt gebildet.

Die einzige Chance zur Besserung ist die Diedrich-Umkehr-Montage. Aus dem Drögen etwas herausstilisieren, etwa zum grauen Unikomplex (ich sitze gerade in der Bibliothek) die Zeitgeschichte finden: Ich, Joachim Lottmann, Ende der siebziger Jahre in einem Verwaltungsgebäude der frühen sechziger Jahre, einem Zeitdokument der Prosperität und der Zukunftsgläubigkeit, 1963, der junge tatkräftige Wirtschaftsminister Ehrhardt trat gerade die Nachfolge Adenauers an ...


25.2.1978


Stephan, Diedrich und ich waren gestern auf der großen Mensa-Faschings-Fete, der Asterix- und Obelix-Fete. Immer schon gehörten diese billigen Mensafeten zum Deprimierendsten in meinem Leben, so manchesmal brach ich für Monate mein Studium ab, weil ich plötzlich keinen Studenten mehr sehen konnte. Erst seit einigen Jahren finde ich Gefallen an der Perversion dieser Veranstaltungen. Schmutzige Pakistani, die in den Ecken stehen und wichsen, verklemmte Studenten aus dem untersten Mittelstand oder aus der Arbeiterschaft, die gute Laune imitieren, Beine und Hüften schwingen und dabei hinfallen, ungelenke Putzfrauen mit Tigerfellen, sportliche Mittdreißiger mit schweißüberströmten Gesichtern, angetrunkene, warzenübersate, plattarschige Hot-pants-Trägerinnen, die auf "sexy" machen, dazu veraltete Rolling-Stones-Musik, sozusagen Stimmungsmusik, und Luftschlangen an den staubigen Neonröhren. Und immer lustig, immer Stimmung, lachende Gesichter, lustig-sein-wollende Verkleidungen wie etwa Pappnasen, Piratenhemden und ähnliches. Freilich ist die Stimmung nur dünn, müßig zu sagen, daß Unsicherheit und Geilheit die Fete prägen.


Diedrich warf nach einigen Minuten das Handtuch, er konnte hilflos herumhüpfenden Krüppel nicht länger lustig finden. Er verschwand und hatte später einen Kreislaufkollaps, so wie Stephan eine Woche vorher aus anderen oder waren es dieselben? Stephan bekam seinen Anfall, als er eine Nacht mit einem Mädchen verbracht hatte, dessen Hilflosigkeit und schlecht, aber penetrant überspielte Verklemmtheit ihm längst Magenschmerzen bereitete. Sein Schwanz siegte über den Rest seiner Person, reine Geilheit zwang ihn mit dem armen Geschöpf ins Bett. Tags darauf, das Mädchen saß noch immer in seinem Schlafzimmer, brach er zusammen.


Ähnlich ging es gestern Abend Diedrich. Selbst sexuell unbefriedigt, geradezu in einem sexuellen Notstand ohne Beispiel, mußte er mit ansehen, wie mehrere tausend Menschen vor Primitivität und Geilheit platzten, wie sie sich gegenseitig reduzierten auf Schwänze und Titten, wie linkische Buchhalter mit dem Becken wackelten, liegengebliebene krukige BWL-Studentinnen die Hemden aufknöpften und Vamp-Blicke aufsetzten, wie Dreißigjährige imaginierte Mikrophone umzärtelten und Mick-Jagger mimten mit der Hand am Schwanz. Diedrich sah auch die Millionen suchenden, aus den Augenwinkeln stets flackernden Augen, rotgerädert vom vielen Bier, leicht verschmiert von Spermatozoten, die wie Nebel in der Luft lagen, entströmt den wichsenden Hundertschaften unter den Tischen, zwischen den Tanzenden, den Reibern, Schwitzenden, Twistern. Diedrich verschwand, Stephan und ich blieben.

„Merkt ihr nicht, daß diese organisierte Ferkelei nur ein Spiegelbild eurer eigenen Geilheit ist?“ hatte Diedrich noch gesagt. „Was meint er damit?“ fragte Stephan, ich sagte: „Ob wir nicht auch einmal so gewesen sind.“ Stephan schüttelte sich. Nein, nein, niemals! Auch ich fand, dieses Niveau niemals akzeptiert zu haben. Es ist sogar so, daß ich durch solch eine Szenerie schwere Störungen mitbekam, als nämlich Eltern mich in den ersten Pubertätsjahren in einen organisierten Ruderclub steckten. Diese Jahre im Ruderclub hatten mich mutlos und traurig gemacht, mich sehr geschwächt. Hier steckte der Feind, der deutsche Provinzialismus, und nichts anderes begegnete mir gestern Abend. Schnapsnase Ohrt stand neben mir und laberte im künstlich-besoffenen Tonfall pervers-lustige Eindrücke und Assoziationen in mein rechtes Ohr. So befreiend es zuerst auch war, Stephan neben sich zu haben, beschützt zu sein vor der geballten Niedertracht und Erbärmlichkeit, so kam ich doch an den Punkt der Depression, besser: an den Punkt, da man nicht mehr einfach gehen konnte, ohne Schaden zu nehmen. Es mußte etwas geschehen.


So suchte ich mir ein Mädchen aus, das jüngste, das ich sehen konnte, fixierte es, ließ es näherkommen, ließ es exhibitionistisch werden und schließlich wiegenden Ganges aufs Klo gehen. Ich ging hinterher, verlief mich aber im Keller. Wütend und ohne Mädchen kam ich zurück, vorbei an Schweiß und Fleisch, vorbei an tausend Augenwinkeln. Das Mädchen kam irritiert zurück, das Spiel ging von vorne los.


Stephan hatte unterdessen ein Mädchen an Land gezogen, ein ungeschicktes, tapsiges, heute aufgedrehtes Pferd. Stephans Mund war aufgezogen wie eine Gardisette-Gardine, alle Zähne freigelegt, er hatte das sechste Bier in der Hand und brabbelte lachend blödes Zeug.


Diedrich kam zurück und erklärte bleich, er fühle sich so schlecht, ob wir ihm helfen könnten. Da riß ich mich zusammen, steuerte auf das ausgewählte Mädchen zu und griff in die Vollen.






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