top of page
Noch keine Tags.
Tag Cloud
Featured Review

Das Fritz Brinckmann Buch 72

72. Kapitel

28.2.1978

Das Wetter war schön, Kiebitze piepsten frech von den Telegrafenstangen der Überlandleitungen, Lerchen flogen hoch droben in den Lüften, der Frühling war ausgebrochen, noch im Februar, und ich hatte von der schneewittchenhaft-schönen Kolltochter geträumt. Stephan T. Ohrt und ich wollten Fotografien machen, ich räkelte mich aus dem Bett, blickte erwartungsfroh auf die Kamera, die auf dem Nachttisch stand, und öffnete die großen, zum Garten führenden Flügelfenster.


Ich erledigte noch schnell den Frühsport, rannte im neuen Trainingsanzug achtzehnmal um den angrenzenden Sportpark, auf der Aschenhahn, dann sagte ich Mutter guten Morgen, verschwand im Badezimmer und begab mich schließlich zum Frühstück in die Küche. „Du rührst ja gar nichts an“, sagte Mutter. Ich hatte es eilig, bei so einem schönen Wetter mochte ich keine Minute zu lang im Hause hocken, auch war ich darauf versessen, auf der Stelle mit Stephan die Fotografien zu machen.


"Lauf du nur zu deinen Kameraden“, sagte Mutter, °dann werde ich heute mit dem Fahrrad um die Alster fahren. Sag mal, Jochen, wen hast du eigentlich lieber - Stephan oder Diedrich?" Ich machte eine vage Handbewegung, kaute zuende, sagte dann! „Beide gleich“, trank einen Schluck Milch und lief, die Kamera geschultert, aus dem Haus.


„Stephan wird glatt noch schlafen“, überlegte ich, „dann werde ich wütend werden, und er wird sich noch mehr Zeit nehmen“. Tatsächlich war es so. Breit grinsend und im Bademantel stand er in der Tür, als ich die Treppe hochhechtete. Dann bestand er darauf, sich erst einmal die Haare zu waschen. „Stephan, du bist doch kein Mädchen!“ empörte ich mich. „Doch“, sagte er scherzhaft, „ich bin ein Mädchen. Schminken und pudern muß ich mich auch noch“. So dauerte es 45 Minuten, bis sich das Mädchen Stephan zurechtgemacht hatte. Selbst jetzt hatte er noch Schlaf in den Augen, war unkonzentriert und viel zu verspielt für irgendeine ernsthafte Angelegenheit. Am liebsten hätte er wild in die Luft geknipst.


Auch Stephan schulterte seine Kamera und wir traten ins Freie. Im selben Augenblick schoben sich Wolken vor die Sonne und das Fotowetter war vorbei. „Siehst du, Stephan T. Ohrt, mit dir kann man einfach nicht arbeiten!“ schimpfte ich. Stephan wackelte mit dem Kopf, drehte seinen Pappmachékörper um 45 Grad, zog die Augenbrauen hoch, nahm die Hände zu Hilfe, um sich, um sein Verhalten, um die 45 Minuten Verspätung zu erklären. Er blieb dafür extra stehen und hielt mich mit seinen eigentümlichen Hundeaugen fest.


„Guck mal, Jochen, zwölf Uhr fünfzehn, jetzt, nicht? Ist es jetzt, zwölf Uhr fünfzehn, gekommen bist du, um, nicht? Elf Uhr dreißig, ja. Sind 45 Minuten. Elf Uhr dreißig. Zwölf Uhr fünfzehn, 45 Minuten. Wenn wir sofort angefangen hätten, also um elf Uhr dreißig, hätten wir nicht mehr als eine Dreiviertelstunde Zeit gehabt. Das hätte sowieso nicht gereicht."


Wir machten also die Fotos ohne Sonne, knipsten den Eppendorfer Baum, die Isestraße, die Rothenbaumchaussee, die Aschenbahn. Dann machten wir uns auf den Weg, Elenor von der Schule abzuholen. Auch sie knipsten wir und verabschiedeten uns bald wieder. Elenor gab mir einen Brief mit, den Stephan auf dem Rückweg laut vorlas.


Sie hielte mich, stand in dem Brief, für einen faulen Menschen, der sich folgerichtig nicht selbst leiden möge und sich deswegen Vorbilder suche, die er dann blind verehre. Natürlich traf mich dieser Vorwurf, zumal es nicht der einzige war. Ich hätte keine Zukunft, ging es weiter, ich würde eines Tages vor einem kargen Schreibtisch sitzen, sinnlose Geschichten schreiben und mir die Haare ausreißen.


Wir gingen in die Mensa, machten Fotos von den essenden Mitessern und sprachen über den Brief. Ich behauptete, Elenor hätte recht, ich sei tatsächlich faul und würde eines Tages ohne Haare an einem kargen Schreibtisch enden. ,,Und was könnte man dagegen machen?" beschwerte sich Stephan. „Eine Banklehre“, schlug ich prompt vor. Stephan ärgerte sich. Ich sei wohl übergeschnappt. Ich erklärte es ihm: Nur die Dialektik von Wollen und Müssen, von Freiheit und Zwang, schaffe Entwicklung, also müsse man endlich wieder Zwang und Disziplin in sein Leben bringen. Stephan schüttelte den Kopf: „Du weißt nicht, was du redest. Du plapperst einfach in den Nachmittag hinein.“


Nun wurde mir, nach dem Brief und nach Stephans Reaktion, mulmig. Verdrossen zwängte ich drei Portionen Nachtisch in meinen Magen. Schweigend erhoben wir uns, um einige Kilo schwerer, die Kameras baumelten am Bauch, die essenden Mitesser machten Witze über uns. Wir knipsten den Philosophenturm und wollten dann zu Diedrich. Doch Stephan fiel etwas anderes ein: „Moment mal“, sagte er, wie so oft, „ich müßte kurz zu Miriam nach St. Pauli“.


Es gibt Menschen, die man durch einen kleinen Satz typisieren kann, durch zwei, drei zusammenhängende Worte. Eva etwa könnte man "Dies und das“ nennen, Schäfer „ich weiß nicht" undsoweiter, vielleicht könnte man für jeden Menschen so etwas finden, Stephan T. Ohrt jedenfalls würde man „Moment mal“ nennen.


Wir gingen also nach St. Pauli. Unterwegs trafen wir die Mia vom Brunnenhof. Kurze Haare und ständiges Lachen. Stephan rollte seinen Pappmachékörper zu ihr hin, in seinen Schuhen schienen Gleitröllchen zu sein. Schließlich stand er da, mitten auf der Straße, blickte auf Mia und legte die Zähne frei. Mia hatte wie immer einen neuen Softy an ihrer Seite, der ihre Frechheit bewunderte und Stephan und mich devot und leutselig angrinste. Wir liefen weiter, und Stephan ging in den sogenannten Laden, um zu arbeiten. Ich wollte nach dreißig Minuten wiederkommen. Als ich das tat, saß er, Beine übereinandergeschlagen, eine französische Zigarette zwischen den Fingern, in einem 50er-Jahre-Sessel und hatte noch nichts getan.


Ani sich bestand seine Arbeit darin, drei Anzüge anzuziehen und sich damit aufnehmen zu lassen. Ich wurde noch viermal für dreißig Minuten weggeschickt, und jedesmal saß Stephan untätig geblieben auf dem Sessel.


Ulf Engbert betrat den Laden, mehr oder weniger zufällig redeten wir über die Ökonomie der Dritten Welt. Als das Wort »marxistische Kriterien“ fiel, zuckte Miriam zusammen und wies uns aus dem Laden, selbst Stephan war vor Schreck aus seinem Sessel gekommen. Irritiert begann er zu arbeiten und war nach sieben Minuten fertig.


Es war dunkel geworden, wir machten uns auf den Weg zu Stephans Wohnung. Dort aßen wir Cornflakes. Stephan zeigte mir ein neues Spielzeugtelefon sowie viele andere neue technische Spielereien und Köstlichkeiten, zum Beispiel einen Cassettenrecorder, den man in einer Zigarettenschachtel verstecken konnte. Ich fühlte mich sehr wohl. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, wir befanden uns in den entlegendsten Zimmern, verständigten uns aber, so versunken wir auch waren, durch Rufen und Klopfen. Ab und zu trafen wir uns, mit dem letzten Spielzeug in der Hand, zufällig zwischen zwei Zimmern. Stephan schlug vor, mir seine berühmte Dia-Sammlung zu zeigen. Wir verschoben es auf später, weil ich keine Zeit mehr hatte: der Bettermanntermin!

Stephan begleitete mich zur Tür, sah mir kurz und ernst in die Augen und sagte noch einmal:


"Also das mit der Dialektik und der Disziplin, das vergiß mal lieber. Banklehre, weißt du? Das hieße ja, daß man dich am hellichten Tag anruft und du bist nicht da, mußt arbeiten. Nein, das wäre nicht schön.“



bottom of page