79. Kapitel
18.5.1978
Ein Weiterlaufenlassen wie bisher wäre falsch. man sollte mehr konkrete Interessens- gemeinsamkeiten haben, damit es nicht weiterhin zu überschwappenden Theoriedebatten kommt, die mich überfordern, mich häufig zum 'Verlierer' stempeln und mir langsam alle Lust rauben. Daher die Idee, eine Arbeitswohnung zu beziehen, Diedrich, Stephan und ich. Freizeit und Theorie draußen in der Welt, beim Kapitalismus und bei den Knackis sowie dem Restprozent, Arbeit und Umsetzung hier, in der Arbeitswohnung. Diedrich dazu: "Das führt zum Elitedenken.“ Muß es nicht, finde ich. Ich finde diesen Zustand solider, rationaler, also weniger geschätzig, spinnerig, elitär als den alten, der sich nun einmal durch Freizeittotschlagen bis zum Gehtnichtmehr auszeichnete (Klatsch und Schwatz, Abart und Ekel, Insidersprache und Gruppenpsychose - was soll anderes entstehen, wenn die einzige konkrete Grundlage die gegenseitige Wertschätzung ist?). Die Konsequenz sollte nicht Rückzug sein, sondern das, was ich vorgeschlagen habe.
Ich dementiere, habe es SO nicht gesagt, nicht gemeint, natürlich sind NICHT neunundneunzig Prozent der Bundesbürger fleischgewordene Klischees, nein, sie sind es nicht, und ihr Bewußtsein ist es auch nicht, oder? Sie sind zwar keine Götter, sondern ahnungslose Schweine, zugegeben, aber interessant sind sie allemal (das habe ich ja nie bestritten, daß ich sie mir gern ansehe und für Romane verwende). Also?
Ich mache jetzt jeden Tag einen anderen Job. Postbote, Lagerarbeiter, Bürogehilfe, McDonald-Verkäufer, Lufthansakoch, und alles macht irre Spaß, ist bunt, kräftig, die reinste Lebenssuppe. Immer neue Kollegen, Menschen, Mitarbeiter, neue Schauplätze, neue Rollen etc. - und das alles ist trotzdem wertlos, bewußtseinslos, sinnlos, die ganzen Leute sind bedauernswert, weil manipuliert, alle sind sie nur Marionetten und Schablonen. Ja.
Übrigens ist es ja ein uralter Hippie-Standpunkt, die Sinnlosigkeit der bürgerlichen Welt zu sehen und zu verurteilen. Nur ist die Alternative der Hippies nicht die weil um nichts besser. Sie klinken aus, besaufen sich, setzen sich keinen Spannungsfeldern und Dialektiken mehr aus, so lange, bis der Gehirnstrom die Nullgrenze erreicht hat.
Meine Alternative heißt: Nichts gegen Stress, wenn er gut ist, also selbstgewählt, abwechslungsreich und wirkungsvoll. Der 'Stress' des Arbeitnehmers ist dagegen nichts anderes als all das, was ihm fehlt, eine negative Größe also, eine Entzugserscheinung und keine Belastung, sondern eher ein Vakuum. Der völlige Mangel an neuen Reizen kann sich durchaus physisch bemerkbar machen.
Übrigens setzt man fälschlicherweise „neue Reize“ mit Ferntourismus und Partnertausch gleich. Dabei sind das zwei Gebiete, die schnell erschöpft sind.
Zu mir. Was bitte bleibt mir, wenn ich eines Tages, wie Alexis Sorbas, „alles gewesen“ bin? Was bin ich dann anderes als das, was der nölige Jean-Marie heute schon ist? Auf das WIE des Lebens kommt es an: ich schreibe jeden Tag.
Ich bin weder Stephan Scholz, der sein Leben so zusammenfaßt: „Mein Gott, früher war wohl alles ein bißchen verbissen, aber heute gehe ich die Sache easier an. Kohle in wichtig, klar, Mann, und daß du das Gefühl hast, nicht gelinkt zu werden von den Leuten, mit denen du zusammen bist. Ab und zu 'ne Frau, die nich spinnt, daß es keine Nerve gibt."
Noch bin ich Jean-Marie: "Isch habe in der Fremdenlegion gekämpft, isch habe viele schwarze Frauen gehabt, isch habe von Beckett eine Psychoanalyse bei Lacan bezahlt bekommen, isch bin mit weißen Frauen in die Berge gefahren, isch habe chinesisch studiert ... jetzt lese isch ein bischen Goethe und höre ein bischen japanische Musik." Jean-Marie hat nie geschrieben.