Gewiß hatte auch mich das 'Klein-Köln' schon einmal gerührt, wenn auch nur für Minuten. Vielleicht waren es nur Sekunden. Und unbestreitbar hatte selbst Daniel Buchholz sich einmal, mindestens einmal dort sehenlassen. Irgendeine Art hohen Gefühlswert mußte dieses Lokal, das es in jeder Stadt der Welt mit mehr als einem Künstlergab, wohl haben. Wo immer sich zwei oder mehr Künstler abens trafen, zwischen Hongkong und Zürich, gab es zum Kehraus Hans-Albers-Geschnulze in rötlicher Umgebung. Seltsam. Auch an diesem Tag erschloß sich mir nicht das Geheimnis dieser Billigfolklore - aber der Tag kam noch, ich gab nicht auf. Nicht nur Daniel Buchholz, der junge, reiche, gutaussehende Erfolgsgalerist, der zu allen guten Gaben Gottes auch noch den Humor, die Schlagfertigkeit, die überschäumende Redelust, das persönliche Interesse am Mitmenschen und eine fast unbegreifliche Hilfsbereitschaft besaß, nicht nur dieses Ebenbild des Schöpfers also, ging ab und zu ins 'Klein-Köln' und weihte es für Stunden zu einer Kirche, sondern auch Axel Mecky. Das war immerhin ein gruseliger Geschichtenerzähler. An manchen Abenden fesselte er seine Tischrunde mit apokalyptischen Visionen über Ratten, Spinnen und giftigen Insekten, die unaufhaltsam die Welt eroberten, allen Bemühungen und Giften der Menschen trotzten, eindrangen in jeden Flur, jedes Schlafzimmer, jedes Bett, jeden Schlafenden, die den Frauen die Beine hochkrabbelten, vor allen den jungen Frauen. Einmal hatte er sich auf Caroline geworfen mit solchen Erzählungen, die er alle schon erlebt haben wollte, in New York, Los Angeles und London. Er war dicklich und pyknisch, eine Dickens-Gestalt, ein nachgewachsener Hitchcock, mit vorgewölbten, nassen, stets 'angewiderten' Lippen. Wenn er erzählte, näherte er sich seinem Opfer bis auf wenige Zentimeter. Ich sah, wie seine vorgewölbten, allen Ekel dieser Welt ausdrückenden, nassen Fleischlippen Carolines verängstigtem Kindergesicht immer näher kamen, wie sie sich dann zu Kußlippen verformten - ich täuschte mich nicht - und dann auch wirklich Kuß- beziehungsweise Schmatzgeräusche machten. Damit war der Ekel perfekt. Sein Bein hatte er schon seit Stunden an dem ihren, und sie hatte es sich wohl gefallen lassen. Nun kam ihr auch der übrige massige, wabbelige Altmännerkörper immer näher. Axel Mecky durfte man nicht behandeln wie irgendwen - ihm und seinem Bruder gehörte das 'Dos Meckis', Umschlagsplatz aller Kunstinformationen in der Stadt, Zentrum von Klatsch, Tratsch und Geschäft der 'Art Cologne'. Tatsächlich war ich nicht eifersüchtig, nicht sehr, nicht ÜBERMÄßIG. Ich brachte mich nicht um. Wer war ich, daß ich diesem Schlachter entgegentreten mußte? War es nicht wunderbar, daß meine Frau den Honoratioren einer Millionenstadt gefiel?
Er versprach ihr das schönste Luxusappartment Kölns, hoch über dem Ring, genau zwischen Rodolfsplatz und Friesenplatz, definitiv der attraktivste Flecken Erde, eine Suite, zwei große lichte Zimmer, Bad, Küche, Balkon, Terrasse. Prima, dachte ich, da konnten wir dann zu zweit einziehen, dachte ich.
Bis dahin übernachteten wir meist im Hotel. Ich nahm sie einfach immer mit auf mein Zimmer, ohne mir etwas dabei zu denken. Als 'Schriftsteller' mußte ich schließlich so etwas machen, wildes Leben und so, Tabubrüche, Sex. Manchmal quietschte das Bett bis zum frühen Morgen. Ich wollte niemanden enttäuschen, es allen recht machen. Einmal, als die Sonne gerade aufging und wir erhitzt aus dem Fenster sahen, joggte der Hotelchef gerade vorbei, genau an unseren Köpfen vorbei. Caroline grüßte freundlich. Nun dachte er sicher, Kunst entsteht. Hauptsache, es ging ungerecht zu in der Welt, daran konnte man untrüglich erkennen, daß Kunst im Anmarsch war: alle schönen Weiber, Weine, Gesänge, aller Müßiggang den Künstlern, alle Arbeit und Fron den Nichtkünstlern.
Nun mußte ich auch dazu stehen und all diese Dinge tun, zum Beispiel jeden Abend saufen und mein Gesicht der Menge zeigen. Als arbeitender Werbetexter hatte ich einst versagt. Da gab es kein Zurück mehr. Nachdem ich sechs Monate keinen Satz aufs weiße Normpapier gebracht hatte, war ich Michael Schirners persönlicher Referent geworden. Ich mußte ihn bei Laune halten, vor allen Dingen mittags. Mittags begann schon kurz nach elf Uhr und endete erst nachmittags um drei. Tag für Tag hing ich vier qualvolle Stunden mit Schirner, dem Werbepapst, dem creativsten Creativen der Welt, in einem Lokal ab, das ich heimlich 'Perverso' nannte, nach einem grünen argentinischen Schnaps, den wir immer tranken, der uns immer automatisch und wortlos vor die Birne gestellt wurde und in dem tote Würmer schwammen. Auch den Schnaps nannte ich heimlich 'Perverso'. Wir trinken 'Perverso' im 'Perverso', ha ha, dachte ich verzweifelt. Schirner selbst sagte wenig, lächelte aber immer. Der einzige Kommentar, den je von ihm vernahm, war:
"Das finde ich schön." Wobei er lächelte, so sehr lächelte, daß seine Augenn verschwanden. "Das finde ich schön" sagte er zu allem, was man erzählte, was alle erzählten, er sagte es funfunddreißig Mal am Tag. Die Angestellten weiblichen Geschlechts gerieten in Ekstase, wenn er ihnen das sagte. Er sagte es auch besonders einschmiegsam und langsam, ohne feste Betonung und Bedeutungssetzung, einfach fließend. In diesem lako-nischen, naiven 'Das finde ich schön' schien echte Freude zu liegen, Freude bis zur Fassungslosigkeit, Anteilnahme, Erleben. Dieser Satz faßte alles zusammen, war das A und 0 der Reduktionstheorie. Außenstehende mochten die Art, wie Schirner den Satz aussprach, vielleicht tuntig, angeschwult finden, aber die Blitzmädel mit der Wave-Kurzhaar-Bübchen-Frisur, denen er galt, wußten es besser. Für sie war er der höchste Lohn für all das kräftezehrende Nichtstun und eine Verheißung für noch viel mehr. Jedenfalls - um den Chef bei Laune zu halten, mußte man ziemlich ackern. Alles in allem war es eben doch: ARBEIT. Ich wußte nun, was das war, arbeiten, und war fertig damit.