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Silvester 1987 - Ein Dialog


(Es ist Sonntag Nachmittag, sogar früher Nachmittag, der dreizehnte Feiertag in Folge. Der Himmel ist düster, fast schwarz: Seit dreizehn Tagen feiern Yuppies Weihnachten, Sylvester, Neujahr, verlängertes Wochenende, Urlaubsbrücke und so weiter. Es nimmt kein Ende, jedenfalls kein gutes. Die Leute sind fix und fertig. Die Überdosis Konsum und Freizeit hat auch die Besten unseres Landes zermürbt. Ich gehe spazieren und treffe mitten auf dem Eppendorfer Baum in Hamburg meinen alten Bekannten Stephan T. Ohrt, der wie ich auf der Suche nach einer Notapotheke ist, da ihm wie mir im Laufe der durchzechten Tage die Kopfschmerztabletten Marke ASPIRIN ausgegangen sind.)

Ich: Na sowas... du hier?

Ohrt: Entschuldige, mir tut der Kopf so weh... ich kann dich kaum erkennen, geschweige denn...

Ich: Ich seh' auch kaum was, das macht die Dunkelheit.

Ohrt: ...geschweige denn mit dir reden. Ich kann überhaupt nichts, das mußt du verstehen.

Ich: Mein Gott geht's mir schlecht.

Ohrt: Ach, dir auch. Ja, ja, so ist das.

Ich: Ja, ja. Ohrt: Ich gäbe jetzt alles für eine Notapotheke. Du weißt wohl nicht, wo eine offenhat?

Ich: Ich suche selber. Da können wir ein Stück zusammen gehen.

Ohrt: Ah, ja... so, so. Na denn, wenn das man gutgeht. Wie gesagt, ich kann nicht reden. Mir tut alles weh, mir ist alles peinlich, ich möchte tot sein. Wie spät ist es eigentlich, in drei Gottes Namen?

Ich: Meine Piaget hat den Geist aufgegeben.

Ohrt: Jetzt, während der Tage etwa? Ich: Ja, ja!

Ohrt: Ich denke, die läuft exakt hundert Jahre lang, oder wie war das?

Ich: Sie geht in genau hundert Jahren exakt eine Sekunde falsch. Aber ich weiß trotzdem, wie spät es ist. So ungefähr drei Uhr. Als ich aufstand, habe ich noch einen Helligkeitsschimmer gesehen.

Ohrt: Das ist mir gestern auch so gegangen. Übrigens, jetzt fällt es mir ein, wirklich seltsam: Als ich dich eben sah, dachte ich als erstes: wieder eines von den Schweinen, die hier wohnen. Bevor ich dich erkannte. Ist das nicht kurios? Und dann erst dämmerte es so wattig, so langsam und dumpf, sozusagen im Hinterkopf: "Froind"... "Alter Froind"... und dann merkte ich, daß wirklich du es bist. Verrückt!

Ich: Die "Schweine" und die "Froinde" - das sind für mich veraltete Kategorien.

Ohrt: Gehörst jetzt selbst dazu. (Er lachte häßlich) Aber guck dich doch um. Überall die Eppendorfer Schweine, wie sie sich fett und vollgekokst und vollgesogen mit Luxus und Sex und sonstwas über die Straße schieben. Na, die sind satt. Die haben ein für allemal genug gedröhnt, denkt der Laie, denen gluckert der Schampus schon aus den Ohren wieder raus!

Ich: In der ZEIT steht, daß es bald zuende geht mit dem Kaufrausch und dem Luxustrend.

Ohrt: Dem SPIEGEL darfst du auch nicht trauen.

Ich: Ich sagte "ZEIT", nicht "SPIEGEL".

Ohrt: Was?

Ich: Egal. Du liest ja sowieso kein Feuilleton.

Ohrt: Was lese ich? Welche Zeitung? (Ich hatte wirklich das Gefühl, er verstünde weder die Worte ZEIT, SPIEGEL, FEUILLETON noch sonst etwas Geschwollenes, sodaß ich auf Babysprache umschaltete.)

Ich: Na, nun ist es doch wieder Winter geworden.

Ohrt: Bei mir im Zimmerchen ist es kalt.

Ich: Guckst du immer noch soviel mit dem Fernrohr nach draußen? Schweine angucken und so?

Ohrt: Papperlapapp.

Ich: Entschuldige. Man wird älter, Pubertät is over, das geht mir genauso.

Ohrt: Da! Das Schwein!, siehst du, mit Schweinefrau, hi, hi, hi. Mit der fetten Rolex am speckigen Handgelenk. Gleich geht's ab im neuen Golf Cabrio, mit weißgespritzten Designer-Cockpit-Firstclass-Ballentines-Liegesitzen, versenkbar zum besseren Vögeln. Kann kaum noch laufen, der alte Konsumbock.

Ich: Na, dir geht es ja auch nicht gerade gut.

Ohrt: Aber in meinen Blutäderchen fließt immer noch echtes Blut , rotes Blut, und nicht Hochwertmarmelade, Gänseleberpastete, Roquefort und was weiß ich. Weiß der Henker, was sie inzwischen alles fressen, die Schweine.

Ich: Jetzt hör doch mal auf! Ist ja scheußlich, du mit deinem Schweine-Fimmel.

Ohrt: Na meinetwegen. Laß uns von was andrem reden.

Ich: Freust du dich schon auf das Jahr, das vor uns liegt, auf neunzehnhundertachtundachtzig? (Mein Bekannter antwortete nicht. Die Frage schien ihn so niederzudrücken wie die Vögel, die schwermütig tief, knapp über dem Boden daherflogen. In den Häusern, die wir passierten, nahmen sich jetzt Menschen das Leben. Es war die Stunde des absoluten Katers, des Jahrhundertkatzenjammers.)

Ohrt: Es... wird furchtbar werden.

Ich: Gottverdammich, am Ende hast du sogar recht. Elend! (Ein ruinierter Broker sah aus einem Fenster.)

Ohrt: Diese Kopfschmerzen!

Ich: Still jetzt! Depressionen hab ich selber.

Ohrt: Glaub ich nicht. Du nicht. Bist doch selbst so ein Yuppie-Schwein, du. Entschuldige bitte.

(Ich schwieg. Einige Flugvögel begannen zu stottern, zu torkeln, kraftlos zu schwanken und stürzten ab. Der Dow Jones hatte noch einmal kräftig nachgegeben. Alles ging dem Ende zu. Das Ozon-Loch war in voller Breite aufgerissen, hatte sich binnen Jahresfrist verdreifacht und bedrohte nun Südamerika, Australien und Neuseeland. Aids war nicht mehr zu stoppen, die Banken brachen zusammen. Ich schwieg und wußte, warum.)

Ohrt: So ein Werbe-Arsch wie du findet doch immer wieder sein Futter. Im Zweifelsfall wird das Schweizer Nummernkonto angezapft, (er lachte dabei, troff vor Spott, fühlte sich großartig, richtete sich auf, packte mich ruckartig an beiden Schultern, durchbohrte mich plötzlich ohne Not mit lodernden Angstaugen.) Ach, Froind! Guter, alter Froind!

Ich: Laß man gut sein. Ich bin nicht "Froind", und du bist der meine nie gewesen. Ich bin nicht in der Werbung, du Idiot! Aber denke nur, was du willst, ist mir sowieso egal. (Der Gedanke an ein jähes, baldiges Ende geisterte durch mein entzündetes Hirn, fast wie eine Vision. Der ganz überwiegende Teil meines Lebens lag bereits hinter mir. Der Aids-Virus kam bald durch die Luft. Menschen starben wie Fliegen. Verzweifelte schreckliche Diktaturen beschleunigten nur den Kollaps der Weltwirtschaft. Und neben mir dieser Pharisäer, Ohrt, schon wieder höhnisch selbstgerecht lachend.)

Ich: Scheiß-Börsenkrach! Liegt nur an Pöhl, wenn du die Wahrheit hören willst! Denkt nicht global, der Kleingeist.

Ohrt: Solange wir den Hafen haben, kann uns nichts passieren. Handel und Wandel, darauf kommt es an.

Ich: Dann sind wir uns ja einig. Übrigens stirbt der Hafen seit geraumer Zeit.

Ohrt: Quatsch. Handel und Wandel, ich sagte es schon. Alles andere ist Unsinn.

Ich: Und Pöhl??

Ohrt: Kenn ich nicht. (Er sah griesgrämig weg, er hatte ja Kopfschmerzen. Ich sah ihn von der Seite an. Er sah wie eine ausgestopfte Litfaßsäule aus, aber großartig und würdevoll, wie sein eigenes Denkmal, wie Willy Brandt. Wir überquerten den Ise-Kanal. Eine auf dem Eis stehende Entenfamilie beobachtete uns. Sie waren mit ihren Füßen am Eis festgefroren.)

Ich: Nein! Die armen Enten! Sie sind wohl festgefroren, oder gibt es sowas nicht? Was meinst du?

Ohrt: Weiß ich nicht.

Ich: Sollten wir ihnen nicht zu helfen versuchen?

Ohrt: Mir hilft auch keiner.

Ich: Ich mag Enten, mußt du wissen... sehr sogar... Da scheint dich jemand zu kennen, Ohrty!

Unbekannte Frau: Hallo. (Eine tapfere junge selbstverdienende Ohrts Augen wahrscheinlich eine abgetakelte Medientante, vor der Zeit verblüht, verbraucht, korrumpiert, schien ihn gut zu kennen.)

Ohrt: Hm.

Unbekannte Frau: Was machst du so?

Ohrt: Ich weiß es nicht. Ich kann nicht mehr. Ich lache über mich selbst. Was soll ich sagen, was - ha ha ha -sagt man in so einem Fall? Es ist kurios, daß wir uns gerade hier treffen, mir fehlen - buchstäblich - die Worte. Soll ich vielleicht einfach der Reihe nach sagen, quasi als Buchhälter des Hier und Jetzt, nicht wahr: Das ist mein alter Froind vom Gymnasium, wir haben uns zufällig auf der Straße getroffen, jetzt stehen wir hier und können nicht anders.

(Die Medientante trug einen "BARSCHEL LEBT!"-Sticker und eine enge, viereckige, schwarze Hornbrille. Sie war zwischen zwischen 26 und 32 Jahre alt. Mit 99prozentiger Wahrscheinlichkeit moderierte sie einen der sieben neuen Privatradiosender der Hansestadt.)

Unbekannte Frau: Also alles Gute nochmal, zum neuen Jahr. Vielleicht sieht man sich ja einmal im neuen "Rübcke".

Ohrt (umarmt sie): Geliebte!

Unbekannte Frau (befremdet): Tschüß. (Und ab)

Ich: Eine Froindin? Eine Schweinin?

Ohrt: Peinlich, wem man alles begegnen muß.

Ich: Du kennst sie gut?

Ohrt: Reden wir nicht davon. Wenn mir doch bloß nicht so elend wär. Gott, ist mir schlecht.

Ich: Dann geh doch in die Hafenstraße, du Jammerlappen.

Ohrt (lacht): Der Pöbel wird sich freuen.

Ich: Da ist die Apotheke. (Man erreicht die Apotheke)

Ohrt: Geschlossen natürlich. Die Säcke fahren lieber mit dem Daimler in St. Moritz umher...

Ich: Wieso soll denn geschlossen sein? Ist doch eine Nachtapotheke, da muß man klingeln.

Ohrt: ...diese Schweine... vielleicht ist ihnen auch das nicht mehr crazy genug, und sie jetten diesen Winter lieber in den Sommer, den proll routes folgend, Teneriffa, Gran Canaria, Bahamas, die Schweine.

Ich: Siehst du, jetzt kommt er.

Ohrt: Ausgerechnet jetzt, wo die Kopfschmerzen nachlassen.

Ich: Jetzt reiß dich zusammen, du blöder Dandy.

Ohrt : Kostet das eigentlich wieder extra? Notgebühr oder so?

Ich: Klar. Kostendämpfungsgesetz und so weiter, das schlägt jetzt voll durch. Aber du hast ja geklingelt, es gibt kein Zurück mehr!

Ohrt: Scheiße...

Ich: Nun mach schon!

Ohrt: Verdammtes Elend. Das Jahr fängt ja gut an.

Ich: Tja! Ein hartes Leben. Aber weißt du was? Das machen sie alles mit Absicht, die Schweine!



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