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Der Mensch hinter „Joachim Lottmann“ - Über den Roman "Sterben war gestern" und seinen Autor

Morgens, nach dem Frühstück, setzt sich Joachim Lottmann an den Computer und beginnt zu schreiben. Zumeist über das, was er am Tag zuvor erlebt hat. Manchmal schreibt er auch Artikel für Zeitungen oder er friemelt an einem bereits geschriebenen älteren Text herum. Nachmittags, in der Regel gegen 15 Uhr, beendet er seine Schreibarbeit. Die Erlebnisse und Begegnungen der nächsten Stunden, bis in die Nacht, bilden dann den Stoff für die Schreibarbeiten des folgenden Tages. Weil Lottmann das schon seit dem Ende der Schulzeit in den Siebzigern so macht, sind im Lauf von Jahrzehnten nicht nur unzählige journalistische Beiträge entstanden, sondern auch diverse Romane, von denen bisher 13 von renommierten Verlagen als Bücher herausgebracht wurden. Mindestens ebenso viele Romane Lottmanns aber wurden bisher nicht veröffentlicht. Sie stehen in Schnellheftern abgeheftet oder als dicke Kladden bei ihm im Regal.

Joachim Lottmann ist Schriftsteller, aber das Schreiben ist nicht nur sein Beruf. Es ist auch mehr als eine Berufung für ihn. Es ist eine Möglichkeit, das Leben, seine Herausforderungen und Tücken überhaupt irgendwie zu bewältigen. Für eine Rezension von Lottmanns neuestem Roman "Sterben war gestern", der jetzt bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist, bietet es sich deshalb an, nicht nur die rund 350 Seiten des Buches zu betrachten, sondern auch die Biographie des Autors. Es steckt einfach viel mehr Persönliches in einem Lottmann-Roman als in Romanen anderer Schriftsteller.

In "Sterben war gestern", Untertitel "Aus dem Leben eines Jugendforschers", beschreibt Joachim Lottmann aus seiner Sicht die letzten eineinhalb weitgehend von der Corona-Pandemie geprägten Jahre. Das Buch endet mit dem Terroranschlag vom Dezember 2020 in Wien, den Lottmann und sein Alter ego im Roman, der "in die Jahre gekommene" (Klappentext) Jugendforscher Dr. Johannes Lohmer, am eigenen Leib erlebt haben (beide glücklicherweise unbeschadet). Der Roman beginnt im Sommer 2019 in Berlin - mit einem literarisch klugen ersten Satz, an dem sich die Prosa Lottmanns schon zu einem gewissen Teil erklären lässt: "Ich fange mit dem Wetter an, denn Romane beginnen immer mit Wetterbeschreibungen." Sogar bei den richtig guten Romanen sei das so, fügt Lottmann an. Und: "Niemand stört sich daran."

Natürlich fangen längst nicht alle Romane mit Wetterbeschreibungen an, aber eben viele sehr bedeutende. Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften", John Steinbecks "Früchte des Zorns" oder um ein neueres Beispiel zu nennen "Die Korrekturen" von Jonathan Franzen. Die gewaltige Größe des Wetters zu nutzen, um damit ein kleines und persönliches Sujet einzuführen, ist ein probates literarisches Mittel. Albert Camus beschreibt in den ersten Sätzen seines Romanfragments "Der erste Mensch" seine eigene Geburt 1913 in Algerien mit Wolken, die sich nach einer "Reise" über mehrere tausend Kilometer träge, satt und schwer geworden abregnen, wobei erste Tropfen auf das Dach des Planwagens klopfen, in dem die hochschwangere Mutter des Protagonisten liegt.

Joachim Lottmanns Romananfang in "Sterben war gestern", der einen "orientalisch heißen" Augusttag in Berlin ("34 Grad") beschreibt, der mit dem Sommerfest des Literarischen Colloqiums am Wannsee endet, ist nun mehr als eine Referenz an die Weltliteratur. Eher eine schelmische Aneignung derselben. Wobei die Formulierung "niemand stört sich daran" selbstironisch zeigt, dass ein Romananfang natürlich auch viel besser ginge....

Ein Schelm, der in einem selbstironischen und sehr eigenen Stil mit seiner Literatur gehaltvoll unterhält, das ist Joachim Lottmann. Von Haus aus. In dem Roman "Zombie Nation" von 2006 betreiben Lottmann/Lohmer Ahnenforschung. Dabei finden sie heraus, dass sich die Familie mehr als 600 Jahre zurück verfolgen lässt. Der Ur-Ur-Ur-Ur-Vater sei demnach ein Hofnarr gewesen, beim Kurfürsten von Mainz. Nachdem der Lohmer-Narr dem Fürsten bei einem Reitunfall das Leben gerettet hatte, übertrug ihm dieser dankbar Lehnsrechte an Ländereien im Harz ("bei Osterode"), was 1403 "erstmals urkundlich erwähnt" worden sei.

Ein Narrensohn, auch ein erfundener, darf alles schreiben. Vor allem die Wahrheit, gerade wenn sie unbequem ist. Das ist der literarische Auftritt Lottmanns. In "Sterben war gestern" lässt er die Leser teilhaben an seinem ersten Corona-Jahr, das sein Alter ego Lohmer damit verbringt, im Auftrag eines Instituts für Jugendforschung und unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie die sogenannte Generation Greta zu erkunden, also die Jungen und Mädchen, die erst nach der Jahrtausendwende geboren wurden, und die - anders als ihre Vorgängergenerationen - politisiert und moralisch aufgeladen sind. Dabei trifft Lohmer unter anderen eine in Costa Rica geborene Influencerin Lana, eine Hildegard, die Tochter eines Freundes, sowie Amon ("der eigentlich anders heißt"), ein 15-jähriger besonders aufgeweckter Schüler einer Hamburger "Sozialer-Brennpunkt-Schule". Dr. Lohmers Erlebnisse mit der und seine Erkenntnisse über die neue "Jugend von heute", die ebenso geistreich wie komisch sind, bilden die Rahmenhandlung des Romans.

Weil Lottmanns Literatur aber vor allem ein erweitertes Tagebuchschreiben ist, wird "Sterben war gestern" - wie schon alle anderen Romane zuvor - zusätzlich mit dem aufgefüllt, was Joachim Lottmann selbst (und nicht sein Roman-Alter ego Lohmer) zwischen dem Sommer 2019 und Ende 2020 erlebt hat. So oder zumindest so ähnlich erlebt hat.



Der Autor von 'Aus dem Leben eines Jugendforschers' bei der oftmals ungeliebten Arbeit.

Da wären zum Beispiel der körperlich und auch geistig quälende Besuch eines Fitnessstudios, "auf Wusch der geliebten Frau". Harriet, die Frau, hatte die Jahreskarte bezahlt, Lottmann/Lohmer (LoLo) bezahlt dafür mit einem lädierten Rücken. Dann folgt eine mehrwöchige Fastenkur in einem Kloster, bei der LoLo sich von über hundert Kilo auf unter hundert Kilo verschlankt, auch wieder für die geliebte Frau. Schließlich wird noch ein kleines rotes Auto gekauft und ein altes gelbes Auto (der schon aus anderen Lottmann-Romanen bekannte Wartburg 353 Super) verkauft, ausgerechnet an den prominenten Linken-Politiker Gregor Gysi.

Politik spielt nämlich auch eine Rolle in "Sterben war gestern", eine gewichtige sogar. Weil die linke Tageszeitung "taz" LoLo nicht mehr als Autor beschäftigen will, er sei irgendwie zu alt, zu weiß, zu männlich zu irgendwas geworden, bemüht LoLo sich nach Kräften und wunderbar beflissen, den gewandelten politischen Anforderungen der neuen Zeit gerecht zu werden. Während einer Zugfahrt liest er zum Beispiel in diversen Zeitungen Berichte über den Polizei-Mord an dem Afroamerikaner George Floyd. Leider hat er auch die "Bild"-Zeitung aufgeschlagen ("Ein großer Fehler."), und in der steht nun, dass Floyd eine lange Latte von Vorstrafen gehabt habe. Fünfmal habe er schon im Gefängnis gesessen und es gebe kaum ein Delikt, das in seiner Polizeiakte fehle. LoLo ist nun völlig verwirrt. In Panik rennt er zur Toilette des ICE, wo er die "Bild" in tausend kleine Fetzen zerreißt, die er anschließend mit der Hochdruck-Turbo-Spülung beseitigt. Erleichtert kehrt er danach zu seinem Sitzplatz zurück und beschließt, künftig nur noch die "Süddeutsche Zeitung" und die "Zeit" zu lesen und brav alles zu glauben, was da drin steht. Entlarvend und sehr witzig, auch wenn manche in der woken Community, von denen einige ja Probleme haben, die engen Käfige ihrer Denkverbote zu verlassen, sich bei der Lektüre so fühlen werden, als müssten sie mit einem verplombten Zahn auf eine Stanniolkugel beißen.

Insgesamt ist das ein reines Lesevergnügen, diese 350 Seiten "Sterben war gestern".

Allerdings muss man bei einer Rezension noch zwei weitere Dinge betrachten. Zum einen die ständig wiederkehrende Behauptung, Joachim Lottmann würde in seiner Literatur nicht die Wahrheit schreiben. Und zum anderen die in allen Lottmann-Romanen und deshalb auch in "Sterben war gestern" sehr präsenten Beschreibungen der Familie des Autors, inklusive Rückblenden in die Kindheit und Jugend. Die beiden Themen haben viel miteinander zu tun, und sie bedingen sich zum Teil auch.

Dass Joachim Lottmann von Kritikern als "Baron Münchhausen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" bezeichnet wird, ist zunächst grotesk. So wie es zum Berufsbild des Fliesenlegers gehört, dass er Fliesen legt, und zum Berufsbild des Schornsteinfegers, dass er Schornsteine fegt, gehört es schließlich zum Berufsbild des Schriftstellers, dass er sich etwas ausdenkt, dass er die Welt, die zwischen die Deckel seiner Bücher gepresst wird, in seiner Phantasie erschafft. Auf dem Titel von "Sterben war gestern" steht auch in 24 Punkt Größe "Roman" und noch vor dem ersten Satz weist der Verlag ausdrücklich darauf hin, dass kein Anspruch erhoben wird, "die geschilderten Vorgänge seien wahr".

Es ist wohl die Nähe zur Wahrheit in seinen Texten, die Lottmann im Literaturbetrieb das Etikett eines Lügenbarons eingebracht hat, das mittlerweile zu seiner Corporate Identity geworden ist - was ihn jedoch nicht allzu sehr stört. Außerdem ist die Zuschreibung zumeist nicht bösartig gemeint und oft mit einem Augenzwinkern versehen. Der ständige Gebrauch von Klarnamen auch vieler Nicht-Prominenter, die ausführliche Beschreibung realer Geschehnisse suggerieren, dass alles wahr sein könnte, was in Lottmanns Texten steht. Es ist auch vieles wahr, was Lottmann schreibt, sehr wahr sogar, aber eben nicht alles. Dass Lottmann zudem ein Meister des vergifteten Kompliments ist und er außerdem oft Mut vor dem Freund beweist, was, wie man weiß, schwerer sein kann als Mut vor dem Feind zu beweisen, macht seine Literatur noch interessanter.

Das Schreiben ist für Joachim Lottmann mehr als eine Berufung, und das zeigt sich besonders dann, wenn es in seinen Texten um seine Familie und seine Kindheit geht. Lottmann stammt aus Hochkamp, dem in der reichen Stadt Hamburg vornehmsten Stadtteil. In "Sterben war gestern" beschreibt Lottmann das selbst so: "Wir alle legten den denkbar höchsten Wert darauf, nicht aus den umliegenden Stadtteilen zu kommen, etwa Blankenese, Klein Flottbek oder gar dem Schanzenviertel, sondern eben aus Hochkamp. Blankenese mochte als fein gelten, aber es gab diese alles entscheidende Steigerung, und dazu standen wir und ließen es alle spüren. Hochkamp."

Wenn man sich das "Stammhaus" der Lottmanns bei Google Streetview anschaut (Joachim Lottmann hat die Klar-Adresse, Straßenname UND Hausnummer!, mehrfach in seinen Romanen genannt), dieses riesige weiße Herrenhaus, dann denkt man unweigerlich: Wow, mehr geht nicht. Da fehlt ja, wenn überhaupt, nur noch eine bekieste Auffahrt, die durch das - real vorhandene - parkähnliche Grundstück zum Eingang des Schlosses führt.

Doch: Joachim Lottmann musste Hamburg bereits im Kindergartenalter verlassen und die nächsten zehn Jahre in einer Diaspora verbringen. In Wikipedia steht Belgisch Kongo, in Wirklichkeit war es die niederbayerische Provinzstadt Straubing, in die es ihn mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder verschlagen hatte. Neben ein paar Nichten, Neffen und Cousinen ist es vor allem diese Kernfamilie, mit der Lottmann sich in seinen Büchern beschäftigt. Da ist zunächst der Vater, der, das steht in jedem Lottmann-Roman, gern auch mehrfach, nach dem Krieg den Hamburger Landesverband der FDP mitgegründet hat. Dann die Mutter, eine Journalistin, Theaterkritikerin für Tageszeitungen und für den NDR, und schließlich der Bruder, der später Dokumentarfilmer wurde.

In Straubing wurden sie alle vier nicht glücklich. Der Vater versuchte irgendein Geschäft zu gründen und oder zu betreiben, was nicht so recht gelang. Die Mutter, eine leidenschaftliche Großstädterin, litt unter dem provinziellen Mief, und die beiden kleinen Söhne, was soll man da schon sagen, allein die ungewohnte Sprache, die dort auf den Schulhöfen tonangebend war.

Immerhin brachte es der Vater zum Vorsitzenden der FDP im Regierungsbezirk Niederbayern, der vier mal so groß wie das Saarland ist. Googlet man ihn heute, stößt man auf ein paar Einträge aus den sechziger Jahren. Der "Landtagskandidat der FDP Lottmann" tritt im Gasthof "Zum Hirschen" und im Restaurant "Fränkischer Hof" auf, wo er den Einheimischen sich selbst und seine politische Agenda vorstellt. Die bayerische Landtagswahl vom 20. November 1966 endete dann jedoch mit einem Desaster. Die FDP erreichte zwar 5,1 Prozent der Stimmen. Die Partei und damit auch Joachim Lottmanns Vater durfte dennoch nicht in das Maximilianeum in München einziehen. Das bayerische Wahlgesetz war damals härter als heute. Um in den Landtag zu kommen, musste eine Partei nicht nur bayernweit fünf Prozent erreichen, sondern darüber hinaus auch noch - wie fies war das denn? - in mindestens einem der sieben Regierungsbezirke mehr als zehn Prozent. Die politische Karriere von Lottmann Senior war damit beendet.

Bald darauf kehrte die Familie nach Hamburg zurück. Und Joachim Lottmann hatte da schon angefangen, täglich zu schreiben. Vielleicht ist der Umstand, dass er in seinen sonst oft so wahren Texten die Realität gern ein wenig erweitert, auch ein Schutz vor zu viel Intimität? Gerade wenn es um Familiensachen geht. Wenn alles in den Texten wahr sein könnte, könnte schließlich auch alles falsch sein.

Friedemann Sittig war bis zu seiner Pensionierung Leitender Redakteur bei der „Welt am Sonntag“.

Er lebt in Hamburg und leitet dort u.a. die Sektion Nord der Gesellschaft der Literaturfreunde.






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