Spät am Abend brachte ich Kim drei Koffer Wäsche, die ich für sie gewaschen und gebügelt hatte.
„Danke schön“ sagte sie spitz, im Sinne von 'Auf Wiedersehn'.
Um nicht gleich gehen zu müssen, bat ich sie, die Koffer auszupacken; Kim tat es und gab mir die leeren Behälter zurück.
„Kann ich dir etwas anbieten?“ fragte sie nach einer Ewigkeit.
„0h ja! Alles!“ Ich schnappte mir einen Hocker und setzte mich zu ihr an den Schreibtisch. „Was hast du den Abend über gemacht?“ wollte ich wissen. Es war Mitternacht vorbei, fast ein Uhr. Bis Null Uhr dreiundvierzig war sie ausgewesen; ich hatte immer versucht, sie anzurufen.
„Ich war mit Kirstin Bruns aus.“
„Warst du im 'Alles wird gut'?" Ich hatte seit Stunden Lust gehabt, dort hinzugehen.
„Ja. War aber noch zu früh."“Dann laß uns jetzt hinfahren!. schlug ich begeistert vor. .Nein!. Ich fragte, ob sie den Tag darauf weggehen wolle. "Ja, aber nicht mit dir.. "Warum nicht?.
"Nein!"
"Warum nicht?"
"Du bist ein großer Baum, ich ein kleiner Baum, und du nimmst mir die Sonne weg. Reicht dir dieser trübe Vergleich? In deiner Gegenwart empfinde ich nur Drangsal. Ich bin dann nur die 'Freundin von L., nur ein Wurmfortsatz von dir. Ohne dich bin ich auch nur ein Wurmfortsatz, aber einer, der noch gucken und beobachten kann."
"Ja, das klingt schlüssig. Aber was kann ich da nur machen?"
"Keine Fragen mehr stellen."
"Herrgott! Wir müssen uns eben trennen!"
"So, so. Dazu muß ich dir leider ins Gedächtnis rufen, daß du in den letzten Jahren rum einmal Realitäten geschaffen hast, die sich einfach nicht über Nacht ungeschehen machen lassen, mein liebes Kind."
"Es geht doch nur um den Sex." Kim verzog angewidert das Gesicht. Sie sei nur die stumme Krankenschwester, die den Herrn Journalisten wieder aufrichten müsse. Zu sagen hätten wir uns ja nichts. Ich erschrak, sicher dachte sie an die Stunden vorhin, als ich so ausgepowert war.
"Vorhin, meinst du? Das war doch nicht typisch, Kim."
"Das war sehr, sehr typisch! So ist es immer!" glutheißer Haß blies mir unvermittelt ins Gesicht und versengte beinahe meine Wimpern.
Diese Lüge empörte mich. In meinen Augen redeten wir viel, krankhaft viel, andauernd, ohne Ende, engagiert und leidenschaftlich, auf der Straße, im Auto, in Bars, Restaurants, Discotheken, in jedweder Offentlichkeit, beim Bäcker, beim Tschibo-Stehausschank, Café Neumann, während des Zeitunglesens, während des Schlangestehens, bei Verwandten, Bekannten, Großeltern, Freunden des Hauses, Jungunternehmern, Vertretern der Stahlwirtschaft, Gewerkschaftern, Politikern, Repräsentanten von Partei, Staat, Kirche und Militär; wir redeten immer. Die meiste Zeit abgeschieden von den anderen, zu zweit, Kim und ich. Maßlose Wut stieg in mir auf:
„Woher kommt bloß diese deine Lüsternheit auf ein Bild des totalen Spießer- und Muffeltums, in das du uns beide hineinpressen willst, Mit aller Gewalt versuchst du eine Sicht zu etablieren, wonach ich 'Der Mann' sei, 'Der Deutsche Spießermann' , und du 'Die Deutsche Hausfrau' , und wir nur stumm vor dem Fernseher hocken, im Unterhemd und mit einem Kasten Bier neben uns; und ich nur ficken will und du nur noch ein entseeltes Stück Fleisch bist. Woher kommt es, daß du dieses Bild so verfolgst, Wer redet es dir ein, Warum verfälscht du so grotesk und unappetitlich?"
Ich verfälsche nichts. Wir reden nie miteinander. Es geht dir schlecht und ich muß mit dir schlafen, so ist es immer gewesen. Für's Reden waren immer deine Freunde da. Ich war gerade gut genug für' s Bett. Ich war deine Wärmflasche. Deine Kopfschmerztablette. Menschlich war ich ein Nichts, eine totale Null, ein Befehlsempfänger. Jeden Tag die gleiche Mühle. Ich mußte die Beine breit machen und ansonsten das Maul halten.“
Ich vergaß mich. Es fehlte nicht viel, und ich hätte sie vor ohnmächtiger Wut über diese Lügen geschlagen. Krächzend brachte ich hervor:
"... Du Schwein... du narzisstisches, monomanisches, krankes Schwein… Deine Wahnbilder sind dir lieber als alles andere auf der Welt. Da könnte die Realität noch so stark sein... ich könnte Rudolf Augstein persönlich sein oder der Kaiser von China... "
Es war wieder einmal zum Verzweifeln. Kim sah mich aus bitterbösen, verbockten, gnadenlos-kalten Augen an. Die fest geschlossenen Lippen zuckten neurotisch. Es war mir nicht möglich, ihrem Blick standzuhalten. Ihre maßlose Verachtung war einfach größer als meine Wut. Prompt fühlte sie sich in ihrer Sicht bestätigt, als ich wie ein ertappter Lügner die Augen niederschlug. Mit alter Psychiatergeduld stellte ich schließlich eine einfache Frage: warum siehst du die Dinge so negativ?"
"Weil ich erfolglos war, weil ich unglücklich war."
„Ich hätte dagegenreden können. Tatsächlich waren ihre Erfolge im letzten Jahr erstaunlich gewesen. Zum Beispiel hatte sie unter 2314, Gruner+Jahr-Mitarbeitern Platz 28 belegt. Aber jedes Beispiel dieser Art hätte einen Tobsuchtsanfall bei ihr hervorgerufen. Jedes Lob mißverstand sie als zynische Verhöhnung, wenn sie in diesem Zustand war. So sagte ich nur milde:
"Kann ich dir in irgendeiner Weise helfen, die Dinge zu verändern?"
Ihre Miene hellte sich eine winzige Spur auf.
"Du müßtest mir eben konsequent aus dem Weg gehen..." begann sie unsicher und stockte. Ich dachte nach. Ob ich das wirklich tun sollte? Ein Kompromißvorschlag, fiel mir ein:
"Und wenn wir uns immer in einer anderen Stadt treffen würden?"
"Wenn du mir die Fahrkarte bezahlst - immer."
Wir überlegten. Es schien plötzlich ein großer Entschluß in der Luft zu liegen. Ich wurde ganz müde dabei.
Kim gab mir eine Zigarette und rauchte selbst eine.
"Na, willst du das nicht noch einmal überschlafen?" sagte sie rücksichtsvoll.
"Ja... oh, ja." Erleichtert erhob ich mich.
Kim brachte mich höflich zur Tür, wobei sie fröhlich und ausgelassen wirkte. Ich hielt inne; Kim lachte mich an.
"Ich vergesse schon nicht die schönen Stunden!" alberte sie und tätschelte meine Schulter. Sie schien kurz vor einem Anfall von Heiterkeit und Lebensfreude zu stellen. Die Aussicht, mich gleich los zu sein, euphorisierte sie beträchtlich.
Ich machte, daß ich weg kam.
