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Port Stanley ist gefallen 11 (Teil 3 & 4)

So geschah es. Gegen ein Uhr nachts betraten wir das Lokal "Alles wird gut". Weitere zehn Versuche, Kim zu erreichen, waren erfolglos geblieben. Mein Schreck war groß, als sie nun auch nicht in diesem Lokal zu entdecken war. Wo konnte sie sein? Nur hier! Denn alle, alle waren gekommen. Unmöglich, daß man noch irgendwo anders in Hamburg in diesem Moment Spaß hatte. Es dauerte lange, bis ich die ersten Räume durchmessen konnte, da ich schon im Vorfeld sechsmal angesprochen wurde. An dem Tag war ich nämlich im Fernsehen aufgetreten und jeder schien mich gesehen zu haben. Seltsamerweise fühlte ich mich, trotz der großartigen Avantgardisten mich herum, unglücklich. Die Umstände waren freilich in einer Weise angelegt, daß der Abend nicht schiefgehen konnte. Selbst die gröbsten Depressionen mußten, bei so vielen gut gelaunten, wohlmeinenden und angeregten Freunden, atomisiert werden. Allein der glückstreibende, einzigartige "M. Chandon"-Spitzensekt reinigte das Bewußtsein von allen traurigen Schlacken, putzte jeden Fleck weg, bis es hell und und spiegelblank war, strahlend schön und leuchtend weiß, voller Ausdruckskraft, ja, selbst groß und weit genug, die Zukunft zu entwickeln und auszumalen. Kein Problem war groß genug, um nicht im Schwung genommen und entschärft worden zu können. Trotzdem: ich mußte unerträglich lange warten, bis sich die erwartete gute Stimmung bei mir einstellte. Leider zu lange. Da war zwar Katja Perrara, die, aus Angst, ich könnte sie noch für herzlos halten, in meiner Nähe blieb und schön anzusehen war. Sie trug eine sowjetische Uniformjacke, die ihren schlanken Körper noch betonte und aus der ihre endlos langen Beine herausschauten, als wären sie dort hingezaubert. Schicke blaue hochhackige und enganliegende Mädchenstiefel, halbhoch, verstärkten noch den Eindruck der langen Beine, während ein schwarzblaues Augen-Make-up die dunkelblauen ruhigen Augen noch dunkler, größer und ruhiger erscheinen ließ. Da war auch das kleine Schweinchen, das mich belagerte und mir knorrig-freundlich erzählte, was ihr an meiner Sendung gefallen hatte und was nicht. Normalerweise hätte ich mich schon allein über die Tatsache gefreut, daß sie ihr penetrantes Billigparfum nicht angelegt hatte. Als mich unvermittelt drei Musiker der Gruppe 'Palais Schaumburg' in ein an sich nettes Gespräch über Fritz Teufel und Werner Matthöfer zogen und die Mädchen dabei aufmerksam zuhörten, verlor ich den Boden unter den Füßen, zumal, als Cornelia Wiedorn dazutrat und mich erwartungsfroh musterte. Ich flüchtete zur Toilette, kam aber nicht weit. Dorothee, deretwegen Kim den meisten Ärger losgestoßen hatte, versperrte mir mit weit ausgestreckten Armen und Beinen den Weg. Sie hatte mir etwas unglaublich Wichtiges mitzuteilen. "Friedrich Friederichsen hat mir alles erzählt. Ich habe mit ihm gesprochen und du brauchst keine Angst mehr zu haben! Es ist alles in Ordnung, ich regele das, wir kriegen das schon hin…" Jesus Christus! Bloß keine Regelung à la Dorothee! Was war nur in meinen Freund Friederichsen gefahren? Ich ließ mich nicht weiter aufhalten, ging zur Toilette, nahm noch einem Drink mit Friedrich und näherte mich dann mit abgewandtem Gesicht dem Ausgang. Ich rumpelte mit Kim zusammen. "Was für ein Glück! Gerade wollte ich gehen," stieß ich erleichtert hervor, fügte aber einsichtig hinzu: "das heißt, Glück für mich, Pech für dich.“ Kim war nicht wiederzuerkennen. Haut, Haare, Mund, Gesicht, Figur: der Auftritt der Siegerin. Bestechend einfach, klassisch und rein. Selbstbewußt wie die Enfantin des Großmoguls. Diesmal mußte Flum mit ihr etwas anderes gemacht haben als essen. Wahrscheinlich hatte er ihr das teuerste Shampoo der Welt spendiert, dazu das feinste Gesichtswasser, den besten Nagellack, das subtilste Parfum und so weiter. Was ich nie wußte, war, daß er ihr darüber hinaus das sauberste, weißeste Kokain der Hansestadt gegönnt hatte. So gesehen war ihr imperiales Selbstbewußtsein nicht ganz echt. Aber ich wußte es ja nicht und war heillos beeindruckt. "Ich bin schon seit acht Uhr unterwegs!" sprudelte sie glückstrunken. Das versetzte mir einen Schlag. Seit fünfeinhalb Stunden rauschte sie n Party zu Party, wie Rita Hayworth durch ein Musical der 40er Jahre ohne mich! Und sie war dabei glücklich bis zur Ekstase: weil ich nicht da war! Und wurde gefolgt von einem Rattenschwanz einfältiger Bewunderer: die mit ihr ins Bett wollten! Verletzt ließ ich den Kopf hängen. In meinem Herzen fror es. So gute Laune wie die anderen hatte ich ja doch nicht; ich würde ihr nur den schönen, glücklichen Abend verderben. Sie wieder herunterziehen in ihre traurige Welt der "Freundin von L.". Aber einfach gehen konnte ich auch nicht. Mutlos in die Kissen sinken, jetzt? Nein. So wurde ich Zeuge, wie Kim von einem nach dem anderen "angequatscht" wurde. Jedem gab sie volle zehn Minuten. Manchmal entfernte sie sich, und ich folgte ihr. Bis sie mit einem älteren Mann energischen Schrittes fortstrebte, zur Bar, und mir, als ich wieder folgte, ärgerlich Zeichen machte, ich solle ihr vom Leib bleiben. Ich setzte mich auf das Heizungsrohr im dunkelsten Teil des weitläufigen Lokals. Gern hätte ich noch ein Glas Sekt getrunken, aber ich hatte kein Geld mehr. Weder in der Tasche, noch zu Hause. Auf meinem Konto noch acht Mark. Vor Ausbruch der Trennungsschlacht waren es fast achttausend gewesen, genau gesagt: sechstausendfünfhundert, in der letzten Dezemberwoche. Nun war es Ende Februar und die Märzmiete war nicht bezahlt. Kim hatte früher einmal gesagt, sie sei mit mir zusammen, weil ich der einzige 'Mann' sei, den sie kenne, und 'Mann' war für sie jemand, der nie in Schwierigkeiten geriet. Der in jeder Lage genau wußte, was zu tun war. Wahrscheinlich glaubte Kim nun, ich sei kein 'Mann' mehr, sondern ein gewöhnlicher Sterblicher, der in Schwierigkeiten steckte. Aber da täuschte sie sich. Sie hatte ja keine Ahnung von meiner Untergrundarmee. Sie wähnte in mir, dumm wie sie war, einen armen Kraucher, der geschlagen auf dem lauwarmen Heizungsrohr saß... und in Wirklichkeit trainierte die Guerilla schon für den Tag X, für die Machtübernahme! Kim kam an mir vorbeigerannt, der ältere Mann zehn Sokunden später. Was hatten die beiden ausgeheckt? Es würde mir nicht entgehen, wie affiniert sie es auch anstellten. Ich folgte dem Mann. Plötzlich drehte er sich um und sagte: "Tjää, un' was machs' du denn so, hm? Bis' beim Abendblatt oder so, nää?" Ich erkannte ihn wieder. Der Mann war einmal in meiner Wohnung gewesen, zusammen mit einem anderen älteren Mann. Wann war das? Während der Sylvesterparty 1979. Beide älteren Männer wurden mir als alte Kim-Bekannte vorgestellt, so daß ich sie einließ, obgleich sie mir unsympathisch waren. Sie waren damals schon Ende zwanzig und trugen lange Haare. Wie nicht anders zu erwarten, verdrückten sie sich, als sie merkten, daß man sich in diesem Hause gewählt ausdrückte. Es mußte dennoch ein großer Tag für die beiden Alt-Alternativos gewesen sein, nahm doch ihr ewiges Feindbild vom "intellektuellen Wichser" erstmals für sie Gestalt an. "Nein, ich bin nicht mehr beim Abendblatt." Ich blickte in friedliche Augen, die mir nichts Böses wollten. "Hast du den Porno heute gesehen im Fernsehen, sag mal, Alter?" Sein Gesicht blieb dabei ernst, zeigte kein schmutziges Grienen. Ich vermutete, er meinte den japanischen Kunstfilm "Im Reich der Sinne". "Nein, habe ich nicht gesehen." "Ja, tjää... da gabs doch schon mal so'n Film, der war... auch so. Mit Sand und so. Hier, hier... mit dem Mann, na, und,... und wie er nich' rauskommt aus dem Sand, der Typ... Ich wußte nicht, was er meinte. Aber ich blieb brav bei ihm, weil er mir sagen konnte, wo Kim war. Zehn Minuten lang ließ ich mich vollsappeln. Dann packte ich ihn an der Schulter, wobei ich in schmieriges Leder faßte, und jaulte: "Wo ist Kim?" Ich zeigte mich erbärmlich unbeherrscht. "Du, Alterchen, die ist zur Bar gegangen. Da hinten steht sie doch." Ich riß Kopf herum, sah aber nichts. Aber ich war ja auch kurzichtig. Mein Fernrohr lag leider im Wagen. Mühsam ruderte ich durch die lästigen Menschenkörper. Man wurde auf mich aufmerksam. Ganz deutlich spürte ich, wie man mich von allen Seiten besorgt-betroffen beobachtete Kim war nicht da! Ich guckte wirr im Kreis herum: nichts! Nur ratlos starrende Gesichter, Freunde darunter, Bekannte, Katja Ferrara, das leine Schweinchen, Palais Schaumburg. Also machte ich die Ochsentour zurück, wieder zum Hippie. Er war nun ebenfalls verschwunden. Dafür stellte sich Friedrich Friederichsen wie ein Schleusenwärter vor mich hin. "Halt, mein guter Freund! Wer wird denn gleich in die Luft gehen?" "Aus dem Weg! Hast du Kim gesehen?" Er schüttelte den Kopf. Bevor ich ihn beiseite stieß, beschwor er mich: "Laß uns lieber 'Frogger' miteinander spielen!" 'Frogger' war ein Tele-Spiel, ein piepender Automat, bei dem man fünf Frösche über eine befahrene Straße springen lassen mußte. Ich wollte aber lieber selber springen, über alle Leiber hinweg, aus dem Lokal heraus.


Foto: Lottmann Images

Endlich stand ich im Freien, Kim und der Hippie hatten mich in die Irre geleitet. Der Hippie war längst in seiner Studentenkneipe und Kim auf ihrer nächsten Kokainparty. Ich beschoß, in Kims Wohnung einzusteigen – über den Balkon – und eine Verwüstung anzurichten. Fernseher, Spiegel, Fensterscheiben: alles wollte ich in Scherben schlagen. Langsam trottete ich zum alten Wehrmachtskäfer Im Wageninneren saßen zwei Menschen, nämlich die imperiale Enfantin und Kai Flumieboy, der größte Kiffer Norddeutschlands. Kai Flumieboy, obwohl erst siebzehn, war der Prototyp des 'Ewigen Shitrauchers'. Folgerichtig war er auch gerade wieder dabei, ein 'Rohr' zu bauen. Ich öffnete den Wagenschlag, zwängte mich am Fahrersitz vorbei und ließ mich auf die Rückbank fallen. Ich war, wie man so sagt, fix und fertig. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, was der Flumieboy mit dem Joint machte. Es war ein penisgroßes, widerliches Ding, bräunlich, nach oben größer werdend. In meiner Brust regte sich Abscheu und Empörung. Mein Herz, gerade ruhiger geworden, schlug schon wieder schneller. Besonders eklig war, wie Kim tausend unterstützende, rituelle Handreichungen beim Basteln, Kleben, Anzünden und Befeuchten vollführte. Die beiden verstanden sich und waren ein perfekt eingespieltes Team. Kim und Kai Flumieboy: das Kifferpaar des Jahres! Ich schmollte nicht schlecht. Hinten, quasi Hinterbänkler und ohne Stimmrecht, mußte ich ohnmächtig zusehen, wie erst der Flumieboy das Ding anrauchte und es dann im besten Zustand Kim reichte, die es in den Mund nahm und ansaugte, gierig wie ein Turbo-Super-Abgaslader. Während sie das Gift ausatmete, tat der Flumieboy etwas Seltsames: er griff mit den Händen, also mit beiden Händen, auf ihre Oberschenkel, und massierte sie inbrünstig. Es war so irreal obszön, daß ich nicht eingreifen konnte. Im Gegenteil: als nächstes reichte Kim den Joint an mich weiter. Blitzschnell kapierte ich: das war meine einzige Chance! Wollte ich nicht in allernächster Zeit explodieren und mich als Patriarchischer Schweinemann entlarven, als unrettbar repressiver männlicher Chauvinist, mußte ich mitrauchen. Pikiert aber furchtlos nahm ich den Penis den Mund und nahm fünf oder sechs tiefe Züge. Ich Tor! Ein gutes Glas 'M.Chandon' hätte die erhoffte Wirkung eher verschafft, denn das Haschisch lähmte augenblicklich alles, was Leben in mir hatte. Mein Kreislauf wurde schrecklich belastet, die Herzfrequenz sackte auf eine Wert nahe Null. Es wurde finster. Taub und ohnmächtig taumelte ich nach draußen: Luft! Wenigstens frische Luft! Kim und Kai amüsierten sich natürlich über meine Verrenkungen. Für sie war ich der alte Knacker, der zum ersten Mal Stoff antestete und prompt aIles verkehrt machte. "Du hast die falsche Atemtechnik, Opa, " lachte Kai Flumieboy. Kim nannte mich, während sie Witze über mich machte, nur mit meinem Nachnamen, was sie sonst nie tat. "Ziemlich stark, das Zeug, was? " hustete ich. "Ach was, kein bißchen. Ich rauche das schon den ganzen Abend", verriet im leichtfertig. "Nicht möglich, " Ich sah sie fassungslos an. "Doch, klar. Koks, Calvados, Sekt, und dazwischen immer mal ein Pfeifchen. Genau richtig so. Macht Spaß." Kai und Kim verfielen wieder in unverständliches Kiffer-Geblödel, zu dem ich keinen Zugang hatte, da mir zwar das Herz fast stehenblieb, halluzinogene Komponente aber fehlte. Ich tastete mich vom Auto zur nächsten Hausmauer und versuchte, ein paar Meter Abstand von den beiden Jugendlichen zu bekommen. Schließlich torkelte ich in das Insider-Lokal zurück. Direkt unter der grellen Neonröhre im Raum, den ich für mich ”Dorfanger” nannte, kam ich zum Stehen. Als Zombie, also sls lebender Leichnam, hielt ich meine toten Augen so lange ich konnte geöffnet, war aber unfähig, meine Würde sonstwie zu wahren. Bestimmt waren die Blicke der vielen Bekannten noch sorgenvoller geworden, aber niemand traute sich mehr, diesen Ausgelöschten anzusprechen. Es war auch gut so. Ich wurde nicht abgeführt, sondern ging aus eigener Kraft. Es gibt in meiner Existenz den Leitsatz: wenn ich gar nichts mehr kann, kann ich immer noch Autofahren. So war es auch damals. Ich setzte mich in das von Kai Flumieboy und Kim verlassene Auto und fuhr los. Kurze Zeit später stand ich vor meinem Bett. Da ich, durch alle Beschwerden der Herzkranzgefäße hindurch, merkte, wie rasende Kopfschmerzen an die Schalen von Klein- und Großhirn klopften, schluckte ich, praktisch im senkrechten Fall auf das Bett, noch zwei Aspirintabletten. Diese winzige letzte Handlung rettete mir, wie ich zehn Stunden später merkte, fast das Leben. Denn wer weiß, was ich alles angestellt hätte, wenn ich mit den gleichen Schmerzen aufgewacht wäre, mit denen ich eingeschlafen war. Womöglich hätte ich den zutiefst dummen Amoklauf in Kims Wohnung, den ich am Abend vorgehabt hatte, nachgeholt. Und dann: der große Katzenjammer! Die definitive Verzichtserklärung! Man kennt das. Nein, ich wachte stattdessen wundersam erholt auf. Da ich kein Geld ehr hatte, ging ich viel spazieren und schonte mich, wo ich nur konnte. Ich dachte eigentlich, daß sich alle möglichen Freunde bei mir melden würden, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Zum Glück kam aber niemand. So konnte ich, wie ein alter Rentner, den ganzen Tag in hoffnungsloser alter Ruhe vertrödeln. Es wird mir nicht geschadet haben, denn so erreichte ich, daß ich schon am Abend dieses Tages in den Ring zurückkehren konnte. Um Punkt Mitternacht betrat ich das "Alles wird gut".


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