Gegen Mitternacht fuhr ich mit dem alten Wehrmachtskäfer zu Stephan T. Ohrt, Svenja mit dem Fahrrad hinterher. Stephan hatte Diedrich Diederichsen bei sich, drückte auf den Summer, ließ Svenja hinein, während ich zu Frankie weiterfuhr.
Ich hatte Hunger, kaufte in der McDonald's Filiale Eppendorfer Markt einen Viertelpfünder, einen Cheeseburger und einen Hamburger. Den Hamburger brachte ich Svenja mit, dem 40—Kilo—Spatz mit TBC—Verdacht und Unterernährung. Es machte Spaß, einmal in den Laden zu gehen, ohne als merkwürdiger Onkel beargwöhnt zu werden, wie sonst mit Svenja. Beim letztenmal sah man ganz deutlich, wie die orangeblauen McDonald's-Mädchen über uns Witze machten. "Mensch, guck mal, der Onkel mit seiner Kleinen ist schon wieder da..."
Bei Frankie war es anders als gestern, eine gedrückte Stimmung fiel mir auf, die ich mir nicht erklären konnte, zunächst. Heute weiß ich, was es war: Frankie war in mich verliebt. Sie konnte mir nicht mehr in die Augen sehen, ging noch staksiger als sonst, flüsterte.
Im Gästezimmer der riesengroßen Eppendorfer Wohnung, vierzig Meter Flur von ihrem verwüsteten Atom-Erstschlags-Zimmer entfernt, hatte sie einen Punk (wie er im Buche steht) sitzen: die Haare mit roter Tuschfarbe verklebt, den kleinen Plastikfernsehapparat verkehrtrum vor sich, den Mund offen und ohne Zähne. Frankie versuchte, den Guten im Gästezimmer zu lassen, aber er verstand nicht. Er kam mit, lief mit Ketten und Leopardenhosen hinter uns her. Als er den alten Wehrmachtskäfer sah, setzte er sich einfach rein, enthielt sich blöder Kommentare, spielte mit der Lichthupe. Später trat er aus alter Gewohnheit gegen den Kotflügel und verknackste sich irgendetwas. Angeblich kriegte er, als ich schon wieder bei Ohrt in der Dachwohnung saß, nicht einmal die Autoantenne (die Werner von Braun 1945 konstruiert und eingesetzt hatte) entzwei.
Stephan und Diedrich hatten die blutjunge Svenja, wie sie mir erzählte, wie Luft behandelt - der alte Fehler. Als ich hinzutrat, saßen die beiden auf großräumigen Sofas und schwadronierten über die nachlassende Qualität des Hamburger Nachtlebens, über die Schlechtigkeit der Jugend. Svenja: "Ich höre mir das nicht länger an." Ich gab ihr den Hamburger vom McDonald’s. Stephan T. Ohrt betrachtete sich lange im Spiegel, wir warteten.
Im Auto saß Frankie vorne und hatte ebenfalls die Lichthupe entdeckt. Entgegenkommende Autos blitzte sie an. Als sie auch noch auf die richtige Hupe drückte, wurden die Opel-Manta-Fahrer böse. Prolos machten uns schweinische Zeichen. Der Punk bemerkte treuherzig: "Jo, Mann, die Frauen machen Nerv und die Atzen kriegn was auff die Schnauzee." Ohrt beugte sich interessiert vor, wollte mehr hören.
Wir sprachen über den HSV. Ohrt wieherte über die absurd-krachende Konversation - wir alle versuchten uns in Punksprache. Der Punk lief: es sich gefallen, kannte nichts anderes. Ich litt unter Frankies Gehupe. Sie fand es nämlich wirklich lustig, "voll geil".
Im "Alles Wird Gut" explodierten die Sinne. Zur gleichen Sekunde stürzten auf mich ein: das Pferd, das Rosa Schweinchen, alle sieben Flumieboys, Lupe, die Rothosige, der Kleine Zirkusdirektor, Hirschbiegel, Werner "Punkfick" Büttner, Zwergenzack und N…whendle. Am besten war die Szene mit den Flumieboys: von rechts kamen wir, also drei hochwichtige gefechtsklare Großfreunde, gleich Zerstörern der Sheffield-Klasse, umrahmt von giftigen kleinen Punks und gesichert von der hübschen kleinen Svenja, der Nummer Eins des Lokals. Von links kamen die Flumieboys in voller Kampfstarke: Kai Erikson, der Sex-Schweitzer (der im Laufe des Abends heimlich ausscherte und mit mir Kontakt aufnehmen wollte), Klaas, Flum und Blödel. Flum, selbst schlug sich auf unsere Seite, die Flumieboys wurden in die abgelegenen Flipperecken abgedrängt. Ohne die nach Italien gefahrene Spezialfreundin waren sie nur die Hälfte wert, die Flumieboys. Schon kam wieder das Gerücht auf, sie seien alle schwul.
Drei Sekunden später, mitten in die grandiose Ouvertüre, platzte Diedrich mit seiner Ankündigung in mein Gesichtsfeld, gleich ins Langweilercafé "Vienna" zu gehen. Ohrt schloß sich ihm an.
"Nein!" rief ich umsonst. Und ging verdattert mit.
Damit bekam der Abend einen Sprung. Im "Vienna" sank die Laune im Nu auf Null. 35jährige Jazzfreunde laberten mit 35jährigen Medientanten. Statt "everybody needs love and adventure" von den neuen Haircut One Hundred hörte man hier die Botschaft "You are the first love and the last" von Cat Cool Porter 1948. Hier bewegte sich nichts, die Leute hatten schlechte Haut. Diedrich soff sein Bier, Opportunist Ohrt nippte an einem Perrier.
Mir wurde schlecht, ich kam den ganzen Abend nicht mehr richtig auf die Beine, verstand plötzlich, was alle meine Freundinnen so fertig gemacht und in die Arme der Flumieboys getrieben hatte. Ich hatte die falschen Freunde. Ich selbst war schon o.k., aber die mit in die Ehe gebrachten Intellektuellenfreunde verdarben das ganze Gericht. Geschlaucht und allein trottete ich zum "Alles Wird Gut" zurück.
Svenja war - natürlich - inzwischen verschwunden, hatte sich wohl einen neuen Pickel gesucht. Frankie war noch da.
"Es ist aus." Sie heulte, hatte Comic-Sternchen in den Klarabella- Augen.
"Wie bitte?"
Sie wollte mir die "ganze Geschichte" ein andernmal "erzählen". Es ging darum, daß ihr Freund gerade mit ihr Schluß gemacht hatte.
"Ach, dein Freund hat mit dir Schluß gemacht, dieser Boris?" Sie hatte schon mehrmals von einem "Boris" gesprochen, aber immer bloß, daß er in Bremen wohne und mit ihr vor vierzehn Tagen geschlafen habe, ach ja, und daß er "bi" sei.
Nun sagte sie wieder dasselbe. Freund, geschlafen, Bremen, bi. Und: Schluß gemacht.
"Wie schrecklich, Frankie, nach all der Zeit. Du hast ihn seit vierzehn Tagen nicht gesehen, sagst du? Du hast ihn also - heute nicht eingerechnet - erst einmal gesehen?"
Frankie nickte. Ihre gelbe Gesichtsfarbe verschmierte unschön.
"Und an diesem einen Mal hast du also, nicht wahr, mit ihm, äh, geschlafen, ist das richtig?"
Ja, ja.
"Könntest du das differenzieren? Erzähl doch mal!"
"Ich erzähl dir die ganze Geschichte ein anderes Mal. Ganz bestimmt. Jetzt kann ich nicht. Ich... ich... ich..." Sie kam wirklich nicht weiter.
"Frankie. Wenn du die ganze Geschichte nicht auf einmal erzählen kannst, dann sag doch wenigstens, was eben passiert ist. Was hat er eben gesagt?"
"Daß er... also: er hat einmal eine Frau geliebt. Dann hat er mich geliebt, hat er gesagt. Aber jetzt hat er gesagt: er hat doch nur die eine Frau geliebt. Mir hat er gesagt, er hat voll bock auf mich, aber jetzt nicht mehr, nein, das heißt, er sagt, er hat es gar nich gesagt. Er hat gar nich voll bock gehabt, auch vor zwei Wochen nich, und jetzt erst recht nicht. Er will nicht mit mir. Es ist aus. Obwohl er mit mir geschlafen hat. Einfach aus, für immer."

"Das versteh', wer will, Frankie." Ich schüttelte bedauernd den Kopf.
"Außerdem, war er nicht, wie soll ich sagen, pervers veranlagt, also sexuell, äh, bisexuell - sagtest du nicht so etwas? Erklärt das nicht vieles?" Ich weiß nicht, ob sie mir zustimmte. Bettina Wyborni kam heran, hinter sich einen unsicheren, schulterhängigen, offensichtlich zermürbten Albert Oelen. Der Mann war reif, Bettina war wieder zu haben. Ich lächelte ihr zu.
Aber wie das so ist - Bettina war nicht Frankie, also nicht so unkompliziert und einsatzfähig. Anstatt blöde zurückzulächeln und auf mich zuzusteuern, verschanzte sie sich erstmal hinter einem Glas Gintonic und einem Männerrücken. Während sie mich nicht beobachtete, trat Schaefer an mich heran, dann Anja Bissinger, dann Svenja. "Schaefer, das da ist Anja Bissinger." Ich zeigte mit dem Glas in ihre Richtung. Zum Scherz fügte ich hinzu:
"Anja Bissinger, mein lieber Schaefer, ich ich brauche einen Job."
"Du willst Karriere machen?" fragte er blöd.
"Karriere habe ich schon gemacht, es geht um Bissinger."
Ich sah mir alle Mädchen an, erst aus Gewohnheit die jungen Hübschen dann gezielt die "Frauen über zweiundzwanzig". Ja, ich - Premiere - laberte Simone Sever an, die blöde Knalltüte aus der Medienbranche. "Kennen wir uns nicht?" Langeweile, Langeweile. Ein Gespräch kam auf, Simone hatte eine laute Stimme, so laut, daß Flumieboy Kai sie hörte. Er stand gerade zwei Meter neben uns.
"... und so mache ich die Sachen professionell, wenn ich sie mache, wenn ich einen Artikel schreibe und einen bestimmten Auftrag habe, sage ich: okay Jungs, ich mache es, aber ich mache es gut..."
Armer Flumieboy, dachte ich und lenkte Simones Geplärr lieber auf ein anderes Thema: auf Flumieboy selbst. Ich fragte einfach:
"Wie findest du die Leute hier?"
Schon legte sie los...
"Ätzend, absolut ätzend! Die Typen hier kenn' ich, die hängen überall rum. Der da zum Beispiel (sie deutete auf Kai) fühlt sich großartig, weil er im Twen war. Vollschwul der Kerl! Hängt immer nur mit Männern rum!..."
Kai hörte jedes 'Wort.
"... verkauft Platten! Ein Plattenverkäufer, ein Nichts! Also mir reicht das nicht, ich habe noch Ziele..."
Svenja steuerte auf mich zu, ging an Kai vorbei, der ängstlich und verzweifelt zu tanzen begonnen hatte, und sagte überdeutlich, fast schon geschrien:
"Du sinkst auch immer tiefer, Lojo Lottmann!"
Ich sah Simone Sever bedauernd an, als hätte meine Sekretärin einen wichtigen Termin angemahnt.
"Geh weg!" sagte ich.
Simone ging, ich hatte Lust, Svenja an mich zu drucken. Was für eine Freundin!
Angenehm zur Besinnung gekommen, fuhr ich Diedrich nach Hause, der wieder aufgetaucht war. Vor seiner Haustür zog ich ihn ins Vertrauen. Ob er nicht auch finde, daß Svenja ein Glücksfall für mich sei.
"Ganz gewiß!" begeisterte sich Diedrich sofort, "ganz gewiß. Wir haben es hier mit dem seltenen Fall zu tun, daß sich zwei Menschen nicht über eine gemeinsame Ideologie, auch nicht über gemeinsame materielle Interessen, sondern über das finden, was ich den 'Blick auf die Welt' nennen möchte. Das hat - innerhalb deiner Biographie - eine neue Qualität und ist phantastisch. Ich liebe deine Gurkengeschichten, wie jedermann, der dich schätzt, und ich sehe durchaus, daß die Gurken von heute Punkmädchen à la Frankie sind... aber du solltest wissen, daß das wirklich Neue und Fruchtbare für dich in den nächsten Jahren Svenja sein wird. Ich rate dir, die Gurken nicht gegen Svenja auszuspielen."
Die Sorge war unbegründet. Ich beruhigte ihn, dankte für seine warmen Worte, fragte nach der Gesundheit der Katzen.
"Oskar ist wohlauf, Teddy hat noch Schnupfen."
Ich fuhr zum Lokal "Alles Wird Gut" zurück, sah mir noch einmal alle Menschen, dort an. Ich war nicht betrunken. Kein Zweifel: niemand interessierte mich.
Als ich mir ganz sicher war, nahm ich Svenja und fuhr nach Hause. Wieder war es mir schleierhaft, wie Kim sich abend für abend in dieser Welt unterhalten konnte. Auch das Wort "Drogen" half da nicht weiter. Ich würde es aber noch herauskriegen, nahm ich mir fest vor.
Zu Hause umarmte ich Svenja, wie ich es schon seit Stunden gewollt hatte. In ihrem New-Wave-Zimmer rauchten wir noch ein halbes Päckchen Camel Ohne Filter.