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Port Stanley ist gefallen 20 (komplett)


Der nächste Tag war ein Sonntag - Zeit für den politischen Früh­schoppen der Herrenrunde. Flum, Brinckmann, Diedrich, Ohrt und ich fanden sich um Punkt zwölf Uhr im Grindelhof ein. Es ging um den neuen Nationalsozialismus und um eine neue Jugendzeitschrift. Zuerst wurde ein amüsanter harmloser 10-Seiten-Tagebuch-Auszug von meinem Alterswerk "Die Saison" verlesen, dann fuhr Brinckmann schwe­res Geschütz auf: 64 engbedruckte Seiten Theoretisches donnerte er auf die Frühstückenden los.

Es war grauenvoll. Man verstand kein Wort. Obwohl man alles schon kannte:

"... Alles ist Nichts. Das Innerste Ist das Äußerste. Die Macht des Fernsehens ist in Ohnmacht umgeschlagen, da erstarrte Systeme die Jugend nicht ansprechen können. Nur das Genie hilft uns weiter, so­wie die Notwendigkeit krimineller Energie. Also eine Versammlung eingeweihter Herrenmenschen, die die Masse nach dem Prinzip des 'Das Oben ist das Unten' lenken. Eine Jugendzeitschrift, wie sie schon Pythagoras wollte, ein goldener Schnitt aus Kybernetik und Sturm und Drang. Denn wie ruft uns doch Goethe hier wieder zu: Name ist nur Schall und Rauch und so weiter. Wohlan, Freunde! Masse und Macht, nicht wahr, Potz und Blitz, Himmel und Hölle! Tod und Ver­derben! Der Anfang und das Ende. Null ist Eins und zwei mal zwei ist zweiunddreißig."

"Warum zweiunddreißig?" fragte Flum. Diedrich begann mitten im Vor­trag, seelenruhig einen SOUNDS-Artikel zu schreiben. Stephan Ohrt quälte sich furchtbar - der Mund war ihm verklebt. Es war mehr als nur ein Ausbruch, als er bebend hervorstieß:

"Schluß endlich! Aufhören! Das har mit mir und allem, was ich denke nichts zu tun. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, ich gehe!" Fritz war beleidigt. Er bot nun seinerseits an, zu gehen. Zu seiner Überraschung gestattete ich es ihm.

So waren wir zu viert, als wir zum Sommerlokal "Schöne Aussichten" aufbrachen. Dort setzten wir uns in einer Reihe auf vier Stühle und studierten, leicht durch drei Stufen erhöht, die vollbesetzte, sich stets verändernde Terrasse. Bald ging auch Flum und wir waren unter uns, wenn man mal so sagen darf... nichts gegen Flum, aber nach dem Brinckmann-Schock war uns auch er suspekt geworden, an die­sem Tag. Absurdes Theater waren sie alle beide, wie Kim ein mal gesagt hatte. Zumindest in Diedrichs Gegenwart verlor Flum 80 Prozent seines Niveaus, redete nur noch davon, wie er als Kind Flips und Flops gespielt hatte.

Diedrich, Stephan und ich blieben sechs Stunden auf den erhöhten Gartenstühlen sitzen, vertranken 140 Mark. Eine Runde Campari pro Stunde, zwischendurch Cognac, Kaffee. Es dämmerte schließlich, wur­de dunkel. Die Temperatur blieb bei 30 Grad.

"Weiß Gott, hier ist Italien, mehr als am Gardasee" sagte ich und hatte gewiß recht. Ohrt stimmte sofort zu."

Wir verguckten uns in derselben Sekunde in ein Muriel-Hemingway-artiges, glattes blondes Mädchen, das sich, im Herrenjackett und mit Motorradhelm, vor uns auf die Stufen setzte, uns jedoch, da völlig uneitel, keines Blickes würdigte. Es achtete nicht auf die Menschen, unterhielt sich mit einem knickerbockertragenden Golfspieler. Ohrt lachte und lachte, legte die herrlichen Zahnreihen frei, vor Aufre­gung.

Diedrich blinzelte.

"Sieht die da nicht unheimlich gut aus?" fragte er. In einiger Ent­fernung war ein spanisches Mädchen mit Mittelscheitel und krausen schwarzen Nici-Haaren aufgetaucht.

Die Mädchen kamen und gingen, wir blieben.

Tatsächlich blieben wir sogar noch länger als sechs Stunden, ver­gaßen am Ende die Zeit. Ich fragte Diedrich alle dreißig Minuten, ob er inzwischen ein intelligentes Gesicht gesehen habe. Er ver­neinte ganz ernsthaft, suchte wirklich. Auch ich suchte aufrichtig und unvoreingenommen, entdeckte nichts.

Diese Suche nach dem intelligenten Gesicht wurde allmählich zum Hor­rortrip. Ich ertrug es nicht, von Kim zweitausend Kilometer entfernt zu sein - es war ein Alptraum. Mir wurde klar, daß es mir nie darum ging, sie zu "haben", sondern, sie sollte "da" sein. Erst­mals war sie nicht mehr da - schrecklich...

Im "Alles Wird Gut" gab es nichts Interessantes, in den "Schönen Aussichten" auch nicht. Daß wir viel zu lachen hatten, war Zufall. Die Flumieboys tauchten auf, schon wieder unsicher, schon wieder flippernd. Anscheinend brachten sie überall ihren eigenen Flipper mit. Schaefer setzte sich zu uns. Wir hatten Hunger, konnten aber nicht Essen gehen, weil wir nicht aufstehen konnten, aus Trunkenheit. Wir wollten nicht torkeln.

Das Lokal wurde erleuchtet - Lampions. Der schwule Lüdicke kam mit einen Strichjungen. Dorothée zog ihren unsympathischen süddeutschen Freund hinter sich her. Das Muriel-Hemingway-Mädchen stand auf, wir konnten nur hinterherschauen.

Nun war der Zauber gebrochen. Das glatte, blonde, ernste Mädchen zu unseren Füßen war, was wir zwischendurch vergessen hatten, der Grund unserer - an sich ja idiotischen - Dauereuphorie gewesen. Nun standen wir ohne Verzögerung auf, verschwanden.

Im McDonald's am Gänsemarkt holten wir uns für fünfzig Mark Big Mäcs und Cheeseburgers, Viertelpfünder, Apfeltaschen, Fischmacs. Der Al­kohol war verflogen. Nüchtern besprachen wir den nächsten Tag.

"War Brinckmann nicht grauenvoll?” kam Ohrt noch einmal auf den po­litischen Frühschoppen zu sprechen. Diedrich antwortete ihm.

"Er muß mehr lesen, das heißt: er muß ÜBERHAUPT lesen. Tut er näm­lich nicht, sein großer Fehler. Ich werde ihm eine Literaturliste zusammenstellen. Dann können wir uns in einem Vierteljahr wieder­sehen. Brinckmann ist an sich kein schlechter Kopf.”

"Mag sein. Trotzdem habe ich mir erstmal den Magen verdorben von ihm Das Schlimme: ich kann auch Flum nicht mehr sehen. Ich mache noch eine Woche, dann kündige Ich. Es muß Schluß sein mit dem vernunft­losen Gebrabbel.”

Wie traurig das war... ich überlegte.

"Also gut. Du kündigst, aber erst am 6. Juni, nach der Bürgerschaftswahl. Bis dahin bleibe ich bei der BILD Zeitung. Und dann fahren wir nach Amerika, zu Annerose. Wir verhindern ihre Heirat mit dem Medienboß.”

Ohrt und Diedrich waren einverstanden. Zu dritt nach Los Angeles, warum nicht.


Ich ahnte nicht, wie recht ich mit diesem Vorschlag hatte. Der noch andauernde Zustand war unerträglich geworden. Sei der Zeitung wur­de ich für dummerhafte Feld-Wald-und-Wiesenreportagen verheizt. Die Sehnsucht nach Kim hatte überdies ein Maß erreicht, das ich beim besten Willen nicht mehr aushalten kennte. Es mußte ein Ende haben...


Foto: Lottmann Images


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