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Port Stanley ist gefallen 4



Der nächste Tag brachte eine Zuspitzung der Lage, die ich in dieser Schärfe nicht vorausgesehen hatte und deren Heftigkeit mich derart überraschte, daß ich stundenlang hin und her geblasen wurde. Ich machte teilweise eine schlechte Figur. Das Ende drohte.

Vielleicht lag es daran, daß ich den Tag über nichts gegessen hatte. Ich wollte, hatte aber plötzlich keine Zeit mehr. „Kalldewey Farce“, ein Theaterstück, das Kim und ich sehen wollten, drängte. Auch zum Umkleiden reichte es nicht, wofür ich mich gleich bei Kim entschul­digte.

„Ich weiß, daß ich heute ganz besonders scheußlich aussehe“ sagte ich. Kim antwortete mit einem gleichgültigen Kopfschütteln. Sie war so ruhig wie noch nie. Auch wenn sie sonst mit niemanden sprach, mit mir sprach sie immer. Ich höre für mein Leben gerne zu. Das heißt, besonders in den eigenen vier Wänden natürlich. Ein Punkt, den mir Kim seit Ausbruch der Feindseligkeiten um den Kopf haute. Nun schwieg sie mit einem Mal.

Ich mußte anfangen.

„Ich las 'Rot und Schwarz' vor dem Einschlafen. Meine Absicht war, müde zu werden. Nach fünf Seiten vielleicht. Aber es liest sich so fabelhaft, daß ich nach fünfundvierzig Seiten nicht aufhören konn-te. Außerdem habe ich im Spiegel die Serie "Die deutsche Depression. gelesen, die letzte und vorletzte Folge. Mein Schlaf war gut, deiner auch?"

"Ja" sagte sie.

Mein Freund Stephan Ohr hatte solche Schwierigkeiten mit seiner Freundin schon Jahre vorher gehabt. Er rede nicht mit ihr, dafür mit allen anderen. Er erzähle nichts, ließe sich aber alles erzählen. Er benutze die Freundin zum dumpfen körperlichen Auftanken. Auf diese Anwürfe hatte Ohr, wie er mir später sagte, so verzweifelt geschwiegen, daß sie schließlich versickerten. Eher hätte er sterben wollen, als sich auch nur eine Minute lang auf die "Drohnensprache", die kranke Terminologie von "Rolle" und "Funktion" einzulassen. Am Ende lebten sie stumm und glücklich, wie es sich für Mann und Frau gehörte. Das Leben war aufregend genug.

Im Theater saßen wir so, daß Kim erhöht links von mir thronte, während ich am Boden kauerte - wir hatten nur noch einen Sitzplatz gefunden. Gesicht und Haltung strahlten bei ihr eine kühle, kritische, an Selbstgefälligkeit grenzende Selbstsicherheit aus. In dem Stück wurde, ausgerechnet, eine bürgerliche Zweierbeziehung in lauter lächerliche Teile zerrissen. Gnadenlos lachten sich zwei tolle Punk-Schwestern über ein Spießerpärchen tot. Der Mann des Pärchens war stumm, wie ich, sowie sexuell pervers, menschlich vertrocknet und seiner Freundin gegenüber gewalttätig. Ich litt Qualen. „Furchtbar, Kind sagte ich nach dem Schluß, „hast du jemals irgendwo gesehen, gelesen, gehört, daß eine Zweierbeziehung verteidigt wurde, Im Film, in der Literatur, im Bekanntenkreis, in den Fernsehdiskussionen, Nein, niemals, nicht wahr,“ Kim wurde ärgerlich.

„Warum auch! Mir hat die Beziehung jedenfalls nichts gebracht außer Selbsthaß und Verstümmelung. Ich war nicht 'Ich'. Ich war nicht Kim. Ich will endlich frei sein! Es war sterbenslangweilig mit dir. Total unbefriedigend. In den zwei Jahren war ich insgesamt nur dreimal für jeweils eine Woche glücklich. Die meiste Zeit war ich depressiv! Dabei bin ich im Grunde ein sehr lustiger Mensch. Aber dir gefiel es ja, wie die Schwermut aus meinen angeblich tellergroßen Babyaugen tropfte. Du hast das noch stilisiert. Dabei habe ich mich für alles geschämt. Ich schäme mich noch. Am meisten schäme ich mich, daß ich mir das alles so lange gefallen lassen habe.“

„Nu, nu“ beschwichtigte ich mit eingezogenem Nacken. Den Wagen fuhr ich schonend niedertourig - bloß nicht weiter aufregen. Nur kein Öl ins Feuer gießen.

"D-Darf ich, äh, kurz nach oben, äh, ein Äpfelchen essen? Hab' so Hunger. Nichts gegessen heute.“ piepste ich. Kim hatte überraschenderweise nichts dagegen.

Schon nach sechzig Sekunden, im Badezimmer, während ich mit fliegenden Fingern ein neues Hemd zuknöpfte, hörte ich die Tür knallen. Kim drückte sich. Mit einem Satz war ich bei ihr und bugsierte sie in die Wohnung zurück. Unwilligkeit, Kühle und Ekel standen in ihrem Gesicht. Sie wollte und wollte gehen, unbedingt. Meine tapsige Hand wischte sie von ihrem grauen Filzmantel, den sie von der Oma geerbt hatte. Unter meinem ausgestreckten, an den Türrahmen gestützten Arm schlüpfte sie hindurch in ein angrenzendes Zimmer. Ich tippelte hinterher. Die letzten Sekunden waren anscheinend angebrochen. Konfus und mit leerem Magen bezog ich vor der Zimmertür Stellung, die Arme ausgestreckt wie ein Schutzmann, der die Kreuzung sperrt. Kim warf sich bösartig fluchend auf das Bett. Da nicht zu erwarten war, daß mir in nächster Zeit etwas Gewinnendes einfiel, zog ich die Notbremse. Sacht drehte ich den von innen steckenden Schlüssel um, schloß also ab. Kim merkte es nicht sofort. Feinfühlig wie ein Einbrecher, innerlich entsetzt über die Tat, nahm ich den Schlüssel heraus und versteckte ihn. Kim sah, daß die Tür nicht mehr bewacht wurde und stürzte hin. Vergeblich.

Sie rannte zum Balkon. Prompt dachte ich, sie wolle sich hinunterstürzen und hielt sie fest. Währenddessen lief laut der Fernsehapparat, den Kim, als ich im Badezimmer war, angeknipst hatte. Ich erkannte, daß es um die Eröffnung der Berlinale ging. Das interessierte uns. Wollte nicht Flum mit ihr am darauffolgenden Montag hinfliegen? Kim verlangte den Schlüssel.

„Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben“ stieß sie hervor. Alle Verachtung, der sie fähig war, lag in den Worten. In meiner mürben Birne schalteten alle Signale auf „Stop“. Ich hatte keine Chancen, weil ich nichts gegessen hatte. Noch zehn, zwanzig Minuten, dann würde ich aufgeben. "Du kannst mich streichen! Und zwar ganz und gar,“ quetschte sie mit zusammengebissenen Zähnen, „Nimm deine vielen Mädchen und vergnüge dich mit denen, Mit Katja, Dorothee, Svenja, mit deinen Freunden Stephan Ohr und Friedrich Friederichsen, Wie du es immer getan hast! Hast dich doch immer ohne mich vergnügt, nun mach weiter,“ Ihre paranoide Eifersucht überschwemmte das Zimmer. Kraftlos dementierte ich.

„Es gab keine Mädchen. Meine Freunde bedeuten mir nichts. Ich habe mich nicht ohne dich vergnügt.“

„Man hat es mir erzählt“ krächzte sie außer sich, bibbernd vor Haß, „immer wieder! Am nächsten Tag hörte ich es! Man sagte es mir und ich mußte gute Miene zum bösen Spiel machen... oh Gott! Ich wünschte, ich könnte dir das heimzahlen. Ich verachte mich so, daß ich so lange mitgemacht habe!. Sie verlangte den Schlüssel.

"Du bildest dir das alles ein. Du tust mir Unrecht. Ich hatte keine Mädchen.“ Ich sprach zu mir selbst. Kim stand aufrecht wie ein Racheengel. Ich war schlapp auf das Bett gesunken. Beim nächstenmal wollte ich ihr den Schlüssel geben. Sie heulte fast vor Wut.

"Ich bilde mir alles ein, ja, ja! Das ist es wohl! Ich habe ja eine Wahrnehmungstrübung, ich bin verrückt! Ich bin nicht zurechnungsfähig! Ich habe eine agitierte Psychose, ich bin depressiv veranlagt, ich bin autistisch! Ich bin schizophren, wahnsinnig, wenn es nach dir geht! Aber damit ist jetzt Schluß! Ich habe meine eigene Wahrnehmung und stehe auch dazu!“

Nun heulte sie wirklich. Ich ließ mir, mich nur halbherzig wehrend, den Schlüssel aus der Hosentasche und aus der Hand winden. Dabei fiel sie weinend auf mich und blieb liegen, während viele Tränen in mein Gesicht tropften. Ich weinte mit und wir blieben eine halbe Stunde so liegen. Dann guckten wir uns eine weitere halbe Stunde an. Sie machte keine Anstalten, das abzubrechen. Allmählich wurde mir mulmig. Ich wußte immer weniger, was in ihrem Kopf vorging, traute mich aber nicht, wieder zu sprechen.

Unbeweglich starrte sie mich an. Ich studierte ihr wunderschönes Gesicht, aber was tat sie? In meinem Gesicht gab es nichts zu studieren. Ob sie sich gerade ins Gedächtnis rief, was sie alles an mir verachtete? Ob sie heimlich alle Schimpfworte aufzählte, die sie wußte? Ob sie in Gedanken ganz woanders war und sich nur verschnaufte? Sicher letzteres. Endlich stand sie auf, ging in die Küche und entkorkte eine Flasche „MM“. Mit zwei Gläsern und setzte sie sich zu mir. Ich trank gierig, Kim füllte sofort nach. Ein rückstandslos wohliges Gefühl stellte sich ein.

Wir sprachen immer noch nicht. Angenehm ruhig leerten wir die Flasche bis auf den letzten Tropfen. Dann erst begannen wir uns wieder zu streiten. Ich schlug nämlich, ziemlich begeistert, vor, zusammen auszugehen.

"Zu spät, mein Lieber, zu spät! Das hätte dir vor zwei Jahren einfallen sollen!“ Schlagartig war Kims Gesicht feindselig entstellt.

"Aber ich bin mit dir ausgegangen, die ganze Zeit...“ murmelte ich, schon wieder tonlos und mit hängenden Schultern. Kim lachte höhnisch.

"Ich durfte brav zu Hause bleiben! Und wenn ich mitdurfte, wurde mir der Rücken zugekehrt!. Ich schüttelte den Kopf. Sie schrie:

"Geh aus, Wie immer! Ohne mich! Amüsier dich! Mit Katja! Mit Dorothee! Laß mich in Ruhe! Oder ich bringe mich um!“

Erschüttert hielt ich den Mund. Schwer atmend ging Kim zur Tür und verließ die Wohnung. Ich rannte ihr hinterher, holte sie auf der Treppe ein. Sie machte wegscheuchende, hilflose Handbewegungen, als wollte sie eine Fliege vertreiben. Es wirkte desperat. Sie war wohl wirklich am Ende, und so ließ ich sie laufen.


Foto: Lottmann Images

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