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Port Stanley ist gefallen 8 (komplett)

Als ich auf die viereckige platte Hongkong-Quartzuhr guckte, die Tag und Nacht an meinem linken Handgelenk klebte, war es doch erst sieben Uhr und zwölf Minuten. Also hatte ich nur acht Stunden Schlaf gehabt? Die Quartzmechanik ging in hundert Jahren nur genau eine Sekunde falsch, also war es so. Der ganze Vormittag lag einladend vor mir. Schon beim Zähneputzen hatte ich die erste tolle Idee: Ich konnte ja Kim besuchen. Dann erinnerte ich mich, daß ich geträumt hatte, jemand würde, in Anlehnung eines grauenvollen „Frauen“buches, an meine Wohnungstür fünf gräßliche, schandbraune, schief-bizarre Worte schmieren, nämlich: „Auch Du Bist Ein Frauenfeind.“ Im Traum war es nur mein Freund Stephan Ohr, der das tat, und wir lachten herzlich darüber. Ich köpfte mein Frühstücksei. Die Küche sah schmuddelig aus. Was war es doch für eine rohe Tat, mich in dieser großen Küche alleine zu lassen, in der Platz gewesen wäre für eine ganze Familie. Ach, ich liebte Frauen und Kinder, weiß Gott. Ich war ein guter Mann. Kim dagegen hatte nur sich selbst im Kopf. Vor allem war sie männerfeindlich bis auf die Zähne. Aber so war die Zeit, darunter litten wir ja alle.

Dennoch - ich wollte ihr eine Chance geben. Gemäß der Devise meines lieben Helmut Schmidts, man müsse sich besonders in Krisenzeiten in den anderen hineinversetzen, wollte ich die Lage einmal mit Kims Augen, sehen. Das hieß, ich mußte ihr Tagebuch stehlen und es wohlwollend prüfen. Sie schlief noch; ich konnte mit etwas Glück in ihre Wohnung eindringen. Das Problem war, die verschlossene Haustür zu überwinden. Für die Wohnungstür selbst hatte ich noch, was Kim nicht wußte, einen Schlüssel. Ich fuhr mit dem alten Wehrmachtskäfer direkt vor das Haus und wartete, daß jemand zufällig aufschloß. Nach geraumer Zeit blickte ich auf die Uhr: acht Uhr sechsunddreißig. Niemand kam. Endlich, nach einer Viertelstunde, die Briefträgerin.

„Schließen Sie nicht auf?“ fragte ich.

„Nein, nur wenn ich hinein muß. Aber ich bin noch nie hineingekommen.“

„Wie meinen Sie, pardon?“

„Ich klingele vorher. Aber die scheinen alle berufstätig zu sein, da macht keiner auf.“

Sie steckte Post in die Außenbriefkästen. Ich klingelte der Reihe nach bei allen Mietern. Umsonst. Arbeitslose Streuner mit Hunden schlurften vorbei. Bodenständige Handwerksmeister in zeitloser Hamburger Cordhosentracht strömten händereibend in den Bäckerladen nebenan. Ebenso drollige Rentner mit Elbseglermützen und Donald-Duck-Matrosenanzügen. Eine Obstfrau trug eine Kiste Apfelsinen nach der anderen vom Keller ins Geschäft; bis auch sie vom Bäckerladen angezogen wurde und darin verschwand.

Alle hauten sie sich morgens die noch warmen Schleckereien in die Wampe. Ich klingelte bei Kim. Nichts rührte sich. Die Obstfrau, wieder draußen, beobachtete mich mißtrauisch und kalt. Aber dann summte es. Kim hatte schlaftrunken geöffnet.

Mir fiel auf, daß ihre Bewegungen und Handreichungen besonders routiniert waren. Die Erklärung hätte sein können, daß sie eben alles noch "wie im Schlaf" tat, aber es steckte mehr dahinter. Wie sie Kaffee kochte, sich schminkte, die Haare ins Gesicht fallen ließ, die Tasse an die Lippen setzte, mich gleichgültig fixierte, gähnte, aufstand, rauchte: das war amerikanischer Serienkrimi, zu selbstsicher alles, zu cool. Wo, bitte schön, blieb die Neurose? Lebten wir nicht in den Achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, in einer Zeit der Entwurzelung und Deformation? Ich selbst, wie zerrte und zuckte alles in mir, wie entfremdet war ich meinem Körper, gottlob, wie spiegelten sich die großen Kämpfe der Menschheit in meinen verspannten Gesten! Früher war es bei Kim nicht anders gewesen. Nun aber war sie über Nacht zum natürlichen Wesen zurückmutiert. Woran lag's? An der Emanzipation? Waren befreite Frauen der Natur zwangsläufig näher als gebundene Frauen? Am Ende mußte man den ganzen blöden Spuk ernst nehmen: jede Berührung mit dem Mann schwächte die Frau verletzte sie, trieb sie zu Selbstverleugnung, Entkräftung, Krankheit und Siechtum. Demnach war Gott ein unfaßlicher Fehler unterlaufen. Statt Mann und Frau hätte er Pferd und Frau, oder Waschbär und Frau, zusammenführen müssen. Kim hatte das Badewasser laufen lassen, stellte es dann aber ab, um mir weiter Gesellschaft leisten zu können.

„0h, du kannst ruhig baden, es macht mir nichts!" sagte ich scheinheilig.

Kim verschwand im Badezimmer, und ich konnte ihr Tagebuch suchen. Ich fand es, drehte laute Musik an, damit sie nichts merkte, und lief mit dem Buch zum Auto, wo ich es in der hinteren Ablage versteckte. Dann kam ich zurück, nahm etwas von der Lautstärke weg und schnüffelte weiter im Zimmer. Ich fand ein noch aktuelleres Tagebuch, das ich jedoch nicht entfernen konnte, da Kim es gerade benutzte. Die letzte Eintragung war drei oder zwei Tage alt:

„Mon cher Tagebuch,

in Wirklichkeit kommt der Lauf der Ereignisse daher, daß L. mich nicht gehen läßt. Aber es ist nur noch traurig, verstockt und gemein mit ihm. Ich lächele bei meinen geheimsten Gedanken und sage nichts..."

Ich hörte, daß sie aus dem Badezimmer zurückkam und verstaute das „cher Tagebuch“ wieder in der Schublade.

„Ich fange heute bei Flum an,“ sagte sie freundlich, „du kannst mich gleich hinfahren.“

Sie holte eine halbvolle Flasche Henkell Trocken aus dem Kühlschrank und goß mir Ein. Ich trank mit Wohlbehagen. Der schwarze Kaffee hatte mir weit weniger geschmeckt.

„Es macht mir Angst, daß du zu Flum gehst," - der gute Sekt machte mich augenblicklich mutiger – „weil... das ist eine so starke Realität, daß nichts und niemand mehr dagegen angehen kann. Selbst wenn ich die gesamte restliche Freizeit mit dir vorbrächte, selbst wenn ich jedes Wochenende mit dir nach Los Angeles oder Peking flöge: Flums Realität Idee stärker.“

"Mache dir keine Sorgen. Ich habe dich ja lieb.“ sagte sie spöttisch.

Dann fuhr sie mich scharf an: "Oder willst du etwa, daß ich NICHT hingehe?“

"Doch, doch. Es wäre Frevel, solch ein Angebot an sich vorbeiziehen zu lassen. Sowas muß man einfach tun. Ich bin ja auch dafür. Aber beantworte mir drei kurze Fragen. Erstens: Warum solltest du noch mit mir essen gehen, wenn du vorher schon dreimal mit Flum gegessen hast, auf Spesenrechnung und im besten Restaurant der Stadt?.

„Dafür gäbe es dann keinen Grund, denn das wäre ja Völlerei. Mehr als dreimal sollte ich tatsächlich nicht an einem Tag essen.“

„Zweitens. Warum solltest du noch mit mir verreisen, wenn du einmal die Woche mit Flum umsonst verreist, auf Firmenkosten und erster Klasse? Im Airbus nach London, mit der Concorde nach Paris?"

„Mit dir ist es aufregender: dir geht immer im kritischen Moment das Geld aus.“ Kim lachte müde. Sie war ganz damit beschäftigt, sich anzuziehen. Ich mußte ihr sagen, was ihr stand, damit sie dann das Gegenteil anziehen konnte.

„Drittens: warum solltest du noch mit mir ausgehen, wenn Flum dir rauschende Kokainparties bietet? Viertens: warum solltest du noch mit mir sprechen, wenn du dich mit Flum so „phantastisch“ verstehst, wie er behauptet?"

„Flum langweilt mich. Es geht mir nur um das Geld.“ Sogleich war ich versöhnt. Wir begannen, leidenschaftlich über den neuen Spiegel und die letzten beiden Ausgaben der Bildzeitung zu fachsimpeln. Zwanzig Minuten lang redeten wir aufeinander ein, zeigten uns um die Wette köstliche Stellen und Feinheiten. Wechselseitig lasen wir uns vor. Mitten im Vorlesen - ich las gerade:

"Ganz schnell Urlaub - nur weg von hier! - Von Gerhard Buzzi - ... Der hagere Herr im graugestreiften Anzug wischte sich mit beiden Händen über die Augen, fuhr sich über den Nacken, den Hals runter, bestellte bei der Stewardess einen „Gin mit Eis“. Den dritten auf diesem Flug zwischen Frankfurt und Hamburg. Harre Iden (53), Finanzchef und Vorstandsmitglied der Neuen Heimat, hatte etwa eine Stunde zuvor erfahren, daß er gefeuert ist. BILD fragte Iden: Gehen Sie jetzt in Pension? Er zog an seiner Filterzigarette, schaute aus dem Fenster der 1.Klasse des Lufthansa-Airbusses in den Nachthimmel, wandte sich wieder um: 'Ich mache erst mal ganz schnell Urlaub, ich weiß zwar nicht wohin. Nur wog von hier.'..." - mitten im Vorlesen also erhob sich Kim und schritt zur Tür. Sie ließ mich einfach stehen.

"Halt! Moment, ich komme ja schon!“ rief ich und eilte ihr nach. Die neue Nüchternheit, die neue feminine Unkonventionalität, nicht wahr, erstaunte mich ein ums andere Mal. Ich fuhr sie zu Flums Büro. „Die ersten vier Tage sind grauenhaft,“ munterte ich sie auf, „man weiß nicht, wie man die Minuten und Sekunden herumbringen soll, aber danach hat man es geschafft.“

Der Abschied war überschwenglich. Ein neues Kapitel ihres Lebens begann, das Glück war nah. Sie winkte noch lange, als ich weiterfuhr. Wo fuhr ich hin: schnellstens nach Hause, um das Tagebuch zu lesen. Nun sollte sie ihre ideologische Chance bekommen, die gute Kim. Ich wollte mich in sie hineinversetzen. Hatte sie recht, von ihrem Standpunkt aus? Waren die letzten Jahre für sie tatsächlich eine Tortur? Voller Unglück?

Ich las, mit zunehmender Empörung.





„…Ich weiß nicht, wie L. zu helfen ist - nur, daß ich nachts bei ihm schlafe, und auch sonst präsent bin, als weiblicher Gegenpol präsent bin, so eine Art Hausfrauenhilfe für den erschöpften Gatten, der abends ausgepumpt nach Hause kommt.“

„Die gemeinsamen Abende gestalten sich eher träge, von endlosen 'Wie-ändere-ich-meine-Lage-nur'-Gesprächen durchzogen. Gegen das träge vor dem Fernseher liegen habe ich nichts, aber interessante Neuigkeiten wären besser.“

„Meine panische Angst vor Stephan Ohr, vor den Großfreunden, vor allem gesellschaftlichen Umgang, ist ärgerlich. Mehr Mut!.

„Verlor die Beherrschung und aß für vierzig Mark Kuchen, etc. Auslöser waren die fünf Minuten Angst auf dem Weg zur Pressevorführung im Streit's, Angst vor bösen Presseleuten und Großfreunden. Mir schnürte es immer noch die Kehle zu, als ich vor dem Kino stand, ging dann aber doch tapfer hinein und - Angst umsonst - Friedrich Friederichsen und seine Leute waren gar nicht da. Später kam L. und alles war gut, nur beschämend.“

"Vorgestern den ganzen Tag ferngesehen, briitische Hochzeit bis zum Erbrechen und abends Filme (welche bloß?).“

"Nach ein paar Stunden trat ich auf die Straße und befand mich in eine: merkwürdig betäubten Zustand.“

"Abends kam L., offensichtlich angestrengt..“

"Auf dem Rückweg begegnete ich L.'s Vater und bekam einen Riesenschrecken, der den Rest des Abends, bis ich wieder einmal vor dem Fernseher einschlief, ausfüllte.“

"Sehr bescheidene Handlungen, mit dem Fahrrad im engsten Umkreis unterwegs. Meinen derzeitigen Lebensstil könnte ich auch als bewußten Akt von minimal Art ausgeben.“

"Nachmittags schrieb ich für L. eine James-Bond-Kritik. Im Ansatz gut, dennoch zu oberflächlich und naiv. Brachte aber viel Spaß.“

"Gestern lag ich den ganzen Tag auf dem Bett.“

"Nach Büroschluß kam L. und wollte an die Alster. Ich aber wollte nicht, die Sommermenschen machten mir Angst. Schlecht gelaunt grummelte ich, zu Hause bleiben zu wollen. Ausschlaggebend war wohl der ergangene Sonntagabend gewesen, wo wir beide in der Innenstadt umherliefen und ich neiderfüllt auf die 1,40 m Beine eines New-Romantic-Mädchens starrte... L. sagte: 'Ich habe kein Mädel. Alle laufen mit einem Mädel um die Alster, nur auf mich fliegen die Homosexuellen', etc. Als wir dann doch auf die Straße traten, saß ein bebrillter Lockenkopf-Lay-Outer auf dem Kotflügel des Autos. 'Da', deutete L. mit zitternd ausgestrecktem Zeigefinger, 'da sitzt schon wieder einer. Der 'schwule Hund hat schon gestern auf mich gelauert'. Ich schmiegte mich L.'s neuen karierten Anzug... Heute werde ich mich netter verhalten.“

„Fast jeden Abend arbeite ich, Sonntage fallen wegen Depressionen aus d tagsüber ficht L. seinen Kampf im Springerbüro..“

„Es war fünf vor neun, als ich einen dunkelblau gekleideten, schon älteren Herrn sah, vermutlich einen Advokaten, der auf die Bushaltestell alle zuging, als wäre er betrunken. Da er aber gut gekleidet war und mit offensichtlichem Vergnügen wild schlenkernd eine Zigarre rauchte, schien er mir nur sehr, sehr selbstbewußt oder fröhlich, als sei er eine Koryphäe auf seinem Gebiet, oder ein Psychiater auf dem Weg zu einem kräftig zahlenden, idiotischen Privatpatienten. Ich hätte ebenso gehen mögen.“

„Die Kino-Arbeit ist ein schleichendes Gift. Nicht die körperliche Erschöpfung raubt mir den Elan, sondern die Berührung mit Menschen und Kollegen.“

„Tagsüber mühseliges Aufrichten von L., der den lieben langen Tag unter Kopfschmerzen litt.“

„Todsicheres Frauentaktik-Mittel: Statt, wenn man gerade die größte Lust und am meisten Anlaß hätte, den Mann niederzubrüllen, lieber sein Gesicht mit Küssen bedecken.“

"Wir trafen Stephan Ohr und Friedrich Eriederichsen. Ich fühlte mich wie ein Austauschgast, der sich als langweilig entpuppt und von den Gastgebern und deren Freunden keine Ahnung hat, aber dennoch seine und ihre Langeweile mit Höflichkeit zu vertuschen sucht. Ich war fürchterlich nervös, saß Ohr gegenüber und fummelte an meinen Handgelenken und Fingern. Die Knie hatte ich zum Trost unter L.'s warmen Beinen deponiert, und diese Beine konnte ich ab und zu als kleinen Halt berühren.“

„L. kam gegen acht und blieb zwei Stunden. die ich mit 95% Redeanteil bestritt, derweil es draußen in Strömen goß und winterlich dukel war.“

"Mürrisch, schwitzend, im eigenen Körper unwohl, so wanderte ich zur Staatsbibliothek, kurzsichtig und mit wehen Füßen.“

"Gehirn und Schreibkraft stark benebelt. Heute zum Beispiel, in einem Schub Bewegungsdrang, der mich durch die Wallanlagen bis nach Altona trieb, dachte ich kaum, sondorn ging nur. Es war kein Licht, nur hell-graue, tiefe Wolken.“

„So sollte es wenigstens die kleine, schon oft angedrohte Rache geben. Ich verschwand für zwei Tage, fuhr zu meinen Eltern. Prompt wurde L. krank und ich pflegte ihn mit Micky Maus und Haribo.“

„.Abgesehen von abnehmender Kraft, höre ich noch gut, empfinde aber kaum für andere, sondern nur für mich. Ich l-i-e-b-e nicht mehr so richtig. Jedenfalls kann ich mir L. nicht mehr gefallenlassen.“

„Ich schrie wohl tausendmal in die dünnen Pappwände meines Appartments, wie auf der Platte von 'Palais Schaumburg' . Ich - ich - ich - ich - ich - ich - …“

„Es gab wieder ausnehmend hübsche Mädchen, mit eng geschnürter Lacktaille, rosa Pullovern und halb weit, halb engen Reithosen. Zwar keine rechten Jeane Segbergs, dazu fehlte ihnen wohl Alter und Godard, aber mit der heute üblichen Morbidität. Ein anderes war spatzenhaft klein und hing schmal in einem grauen Sakko; sie aber hatte das bessere Gesicht - ganz wunderschön: blonde Seidenlöckchen, ganz BDM-mädchenhaft, hohe Wangen, blaß... "

„Die größte Hürde ist, daß ich zu wenig schreibe. Mein Kopf platzt förmlich von gespeicherten Bildern, Zahlen, Informationen aus Süddeutscher Zeitung und Spiegel, die sich einfach nicht zu einem System formen lassen. Diesen Prozeß der direkten Umformung kann man so schön bei L. beobachten - was er morgens hört, wird schon beim Mittagsdiskurs wortwörtlich übernommen und ist am Abend gehämmert und ziseliert zu einem festen Bestandteil des L.-Gefüges geworden. Wie er dabei vorgegangen ist, ist ja bekannt: durch stetes Schreiben."


Das BDM-Mädchen hatte ich schnell erkannt. ES war Engelchen. Kaum war die Liebe zum Freund erkaltet, entbrannte die Bewunderung zu dieser Elfengestalt.

Was war das nur für einer, dieser Freund? Mal hatte er Kopfschmerzen, mal blieb er stumm, mal mußte er mit Micky Maus gepflegt werden, wohl ein wehleidiges Bübchen. Dann aber wurde ihm angehängt, er redete einen gehämmerten, ziselierten Diskurs, der schon die neuesten Nachrichten der Morgenzeitungen enthielte. Vielleicht war ihr der Mann zu extrem, mal zu krank, mal zu hämmerig, nie vernünftig. Zu wenig Mittellage. Mal ein Zeterer und Weltbenörgeler, mal ein gutgelaunter Schreihals, der sein Credo von der "Machbarkeit der Dinge" heißblütig wie ein bedachter jugendlicher Konspirateur an den Mann brachte. Und wie bei Hase und Igel konnte Kim nie so ganz folgen. Wohin sie ihm auch folgte, er war schon wieder woanders. Aber wenn man die Aufzeichnungen genau ansah, merkte man, daß es gar nicht um den Freund ging. Es ging um das Leiden an der Existenz an sich.

Eine Stütze mochte ihr dieser hypochondrische Spinner zugegebenermaßen nicht gewesen sein; aber hatte er ihr Leiden sogar noch verstärkt? Hatte er sie demoralisiert, diskriminiert, diskreditiert, diffamiert? Hatte er ihre Impulse ignoriert, ihre Lebensäußerungen abge- schnitten, ihre Werte entwertet?

Nein, nein, nein. Aber er war eben immer da, lenkte ab, stahl ihre Zeit, lebte ihre Defizite vor, forderte Gefühl und Berichterstattung. Sie, die sich ihrer selbst so schämte, wurde dabei von einem Menschen skrupellos beobachtet, von ihm. Nie konnte sie sich ganz verkriechen, er wurde sie von ihm aus ihrem Versteck herausgezerrt und an die Tagessonne gehalten. Und er war nicht wie ihr Vater, der alles nur unverbindlich anbietet, sondern wie ein junger Hund, der aus reiner Dollerei immer wieder angesprungen kommt. Kein seelenverwandt Leidender, sondern einer, den die Affenliebe gepackt hat. Ich fragte mich, wie sie das nur ausgehalten hatte.

Vielleicht hatte sie es einmal kennenlernen wollen, als Grundsatzerfahrung für die nächsten fünfundsechzig Jahre? Daß sie sehr alt werden würde, war wahrscheinlich; ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter, achtzig und hundert Jahre alt, erfreuten sich noch körperlicher Gesundheit und geistiger Frische. Durch irgendein besonderes Gen lief der Alterungsprozeß in Kims Familie anders ab als sonst üblich. Die Mutter, Kims einzige echte Freundin, war übrigens mit einem Kapitän verheiratet gewesen, also mit einem Mann, der nur einmal im Jahr nach Hause kam.

Wäre es nach Kim gegengen, hätte ich ähnlich gehandelt. Oft hatte sie mir vorgeschlagen, doch in eine andere Stadt zu gehen, der Karriere wegen. In Berlin zum Beispiel, bei Springer, oder in Offenburg bei Burda, kam man schneller voran als in Hamburg. Für diesen Fall, so stellte sie mir mit großen ehrlichen Augen in Aussicht, hätte sie mich auch sofort geheiratet, als Gegenleistung.

Mit einem Wort: sie wollte in Ruhe gelassen werden. Liebe ja, Leben nein. Gerne hätte sie mit mir Kinder in die Welt gesetzt; aber nur, wenn ich unmittelbar anschließend gestorben wäre, eine ansehnliche Rente hinterlassend. In den dann folgenden Jahrhunderten, versprach sie mir des öfteren, hätte sie meine siebentausend Seiten Texte gesammelt, sorgfältig ediert und nach und nach herausgegeben. Dies war ihr sogar zu glauben. Sicher gab es keinen anderen Weg für mich jemals berühmt zu werden; denn Kims Editions konnten sich sehen lassen.

Ich versuchte, mich in ihre Lage zu versetzen. Sie wollte nicht mehr von mir gelästigt werden. Aber sie hätte mich für ihr Leben gerne behalten, einfach deswegen, weil sie die Nerven für ein zweites Experiment mit einem Mann niemals mehr aufbringen konnt. Wollte sie nicht als ungeliebte Jungfer durch das Leben schleichen – und das wollte sie auf keinen Fall – mußte sie mich nehmen. Das Klügste war eigentlich, mich zu heiraten und dann selbst in eine andere Stadt zu ziehen.

Gründe hätte man dafür schon gefunden. Ihr Vater konnte das doch arrangieren. Später konnte man dann vielleicht einmal wie die Beispiele die berühmten Beispiele Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir zusammenleben: getrennte Wohnungen, getrennte Arbeit, gemeinsame Presseerklärungen.

Wollte ich das nicht? War das nicht Spinnerei? Wie alt war denn das Mädchen: vierundzwanzig! Da hatte doch jeder zweite solche Flausen im Kopf. Die Wahrheit war, daß Kim in einigen Jahren Redaktionsassistentin werden würde und als Mann einen älteren, liberalen Kaufmann heiraten würde, einen der sie in Ruhe ließ.

Aber so mußte es nicht so kommen! Ich konnte vorher eingreifen. Mit meiner Guerilla-Armee.

Aber wollte ich das wirklich?

Ja, ja!

Trauschein, blonde Kinder, eine Frau, die nicht dumm war. Ich beschloß, den Kampf mit allen Mitteln weiterzuführen. Als erstes ging ich in den Supermarkt und kaufte für sechzig Mark Spitzensekt

Ich wollte wissen, wie es ihr bei Flum ergangen war und rief in Flums Büro an.

„Herr Flum ist mit der neuen Mitarbeiterin essen gegangen. Kann ich etwas ausrichten?“

Die Sekretärin kannte ich noch von früher.

„Ach" sagte ich traurig, "ach, nein..."

„Er kommt ja wieder.“ meinte die Dame sanft und einfühlsam.

Ich dankte und legte den Hörer auf den Plastikarm zurück. Die Wohnung kam mir plötzlich ganz leer vor. Und so still. Der Mensch, der hier lebte, war ein armer Schlucker. Sekt im Kühlschrank und Rasierschaum auf der Hose, schon eingetrocknet. Alte Zeitungen unter dem ungemachten Bett. Es war schrecklich. Gegenüber im Café Neumann griff ich mir ein Hamburger Abendblatt und durchkämmte die Stellenanzeigen.







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