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Reise ans Ende des Ich

Christian Y. Schmidts Roman „Der letzte Huelsenbeck“


Im Sommer 1978 bereiste der spätere „Titanic“-Redakteur und Satiriker Christian Y. Schmidt mit vier Freunden die USA und Mexiko. Sie waren um die Zwanzig, sie stammten aus Bielefeld. Dort war Schmidt in einem christlichen Haushalt aufgewachsen. Sein Vater war Diakon in den Heilanstalten Bethel. Jahrzehnte sind vergangen, aber die Amerikafahrt mit den Jugendfreunden hat Schmidt, der seit langem mit seiner chinesischen Ehefrau in Peking lebt und noch immer eine Wohnung in Berlin besitzt, nie losgelassen.


Ein Dutzend Bücher hat Schmidt in den letzten 30 Jahren geschrieben, darunter die Politiksatire „Genschman“ oder „Allein unter 1,3 Milliarden“, eine sehr persönliche Beschreibung seiner neuen fernöstlichen Heimat. Die Gedanken an die Amerikafahrt von 1978 und die Eindrücke dieser Reise sollten immer Grundlage für etwas Größeres sein - einen Roman.


Das hat Schmidt jahrelang vor sich hergeschoben, wie das so ist, wenn man etwas wirklich Großes verwirklichen will, das viel mit einem selbst zu tun hat. Aber irgendwann war für ihn doch der Zeitpunkt gekommen, mit dem Amerika-Roman anzufangen. Zuerst besuchte er alle vier Reisegefährten von damals, um Erinnerungen zu sammeln oder aufzufrischen. Dabei kam jedoch nicht viel heraus. Die Freunde erinnerten nur ein paar Anekdoten, unglücklicherweise auch noch oft dieselben. Es war alles einfach zu lange her.


Da Schmidt sein Projekt aber nicht aufgeben wollte, beschloss er, aus der Not eine Tugend zu machen und die Reise von 1978 zu mystifizieren. Was ihm und seinen Freunden noch präsent war, sollte mit dem, was sie bestenfalls nur erahnten, in eine komplexe Handlung eingehen, wobei ein Satz, der dem Roman vorangestellt ist - „AN ALLEM IST ZU ZWEIFELN“ -, eine Art Richtschnur bildet. Aufbereitet ist das Ganze mit dem Aberwitz, für den Schmidt schon während seiner Zeit bei „Titanic“ berühmt war. Von ihm stammt zum Beispiel das Motto der Zeitschrift: „Die endgültige Teilung Deutschlands - das ist unser Auftrag.“


Entstanden ist so Christian Y. Schmidts Roman „Der letzte Huelsenbeck“. Die Huelsenbecks, das sind Schmidt und seine vier Reisefreunde. Sie hatten sich Mitte der Siebziger nach dem deutschen Schriftsteller und Arzt Richard Huelsenbeck benannt, einem Mitbegründer und Chronisten des Dadaismus. Die fünf sind Brüder im Geiste, sie sind jung und sie wissen noch nicht viel vom Leben. Nur eines, das wissen sie ganz genau: Sie wollen nie so werden wie die Erwachsenen um sie herum, so spießig und normal. Auf keinen Fall. Nun ist in Bielefeld, das im Roman konsequent nur „die Stadt“ genannt wird, zwar mehr los als auf dem Dorf. Aber eben auch weniger als in Berlin oder in Hamburg. Große Entfaltungsmöglichkeiten haben kritische junge Geister dort in den siebziger Jahren nicht. So treiben sie allerlei Schabernack, inszenieren zum Beispiel den „Selbstmord des Weihnachtsmanns“, in dem sie eine lebensgroße Nikolauspuppe vom Dach eines Kaufhauses stürzen - die einen Kinderwagen glücklicherweise knapp verfehlt. Ein Höhepunkt in ihren jungen Leben soll die gemeinsame Reise werden, das „Thema“ des Romans.



Das Elternhaus von Christian Y. Schmidt in den Heilanstalten Bethel ist auch das Elternhaus von Daniel S.

Schmidts etwas konfuser Icherzähler, der Journalist und Hobbyornithologe Daniel S., kehrt nach Jahrzehnten in Hongkong und Berlin in „die Stadt“ zurück, weil einer der fünf Huelsenbecks (nur im Roman) gestorben ist. Die Beerdigung bei für „die Stadt“ typischem Regenwetter endet dann in einer Massenschlägerei am offenen Grab. Daniel S. wird davon im Wortsinn getroffen (von einem Stein) und er muss sich in der Folge, also auf den nächsten rund 400 Seiten, aufmachen, die Wahrheit über die Amerikafahrt von 1978 herauszufinden. Er sucht nach und nach die anderen Huelsenbecks auf, er irrt durch Deutschland, aber auch die Suche nach seiner Ex-Freundin, die eventuell noch die Briefe hat, die er ihr aus den USA geschrieben hatte, all das bringt ihn nicht weiter.


Stattdessen stolpert er von einem Rätsel zum nächsten. Antworten auf die für Daniel S. immer drängender werdenden grotesken Fragen zu den Ereignissen von 1978, sind nicht in Sicht. Manchmal scheint er nah dran zu sein, vor allem bei der Suche nach Hinweisen über das Schicksal einer jungen Anhalterin, die sich den fünf Huelsenbecks in den USA angeschlossen hatte. In Berlin wird er vor dem Haus, in dem Richard Huelsenbeck von 1930 bis 1936 lebte, Zeuge eines Rettungseinsatzes. Ein uralter Mann wird aus dem Haus zu einem Krankenwagen getragen. Der Alte hebt dabei den Arm und winkt Daniel S. matt zu. Als die Sanitäter in das Haus zurückkehren, um die Taschen des Patienten zu holen, springt Daniel S. spontan in den Wagen. Er hockt sich neben den Greis, der flüstert: „Die Hexe, die Hexe, sie stiehlt.“ Daniel S. spürt, dass das die Nachricht ist, auf die er gewartet hat. „Wer ist die Hexe, wer war sie?“, will er wissen, doch der Alte jammert nur: „Warum warst du nicht da? Du bist nie da gewesen. Nie, nie, nie.“ Daniel S. insistiert, packt den Alten am Arm: „Wie heißt die Hexe, wie ist ihr Name?“. Der Greis sieht ihn jetzt mit klaren und verständigen Augen an. Er öffnet den Mund, will etwas sagen. Doch in diesem Moment wird Daniel S. brutal von hinten gepackt. Ein bulliger Sanitäter schaut ihn böse an: „Sind Sie Angehöriger?“ Daniel S. ist nicht geistesgegenwärtig genug, um jetzt zu lügen und „ja“ zu sagen. Er sagt die Wahrheit: „Nicht direkt“. Das reicht. „Dann Männeken, zieh ma schleunigst Leine. Sonst wird’s hier für dich gleich sehr ungemütlich.“


Christian Y. Schmidt kann Pointen setzen und einen Spannungsbogen über 400 Seiten halten. Das macht „Der letzte Huelsenbeck“ zu einem Lesevergnügen. Die Handlung wird zumindest für den Icherzähler immer verworrener, was ihn (aber nicht den Leser!) schließlich in den Wahnsinn treibt - und in den geschlossenen Maßregelvollzug der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin. Dort wird dann alles Verworrene der Geschichte und der Amerikareise aufgelöst. Nach und nach, akribisch, so dass zuletzt keine Frage offenbleibt. Naja, fast keine Frage, denn wie gesagt, „an allem ist zu zweifeln“.


Neben der skurril-komischen, aber auch immer spannenden Geschichte, ist es Schmidts selbstironischer in Jahrzehnten gereifter Stil, der seinen Roman gelingen lässt. Schmidt setzt immer wieder eigenwillige Akzente. Zwar hat er schon lange mit Kirche und Glauben nichts mehr am Hut - obwohl, weiß man’s? - eine solide Bibelfestigkeit hat er sich seit der Kindheit jedenfalls bewahrt, und diese setzt Schmidt bei der in den Irrsinn führenden „Reise“ seines Protagonisten immer wieder einmal ein. Zum Beispiel wenn Daniel S. mit einer dementen Rentnerin gemeinsam das Vaterunser betet, in der alten bis 1968 geltenden Fassung, in der es noch „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel“ heißt und nicht wie heute „erlöse uns von dem Bösen“.


Alles in allem also ein gutes Buch, dem jedoch etwas fehlt, was üblicherweise die Grundlage für eine Rezension bildet. „Der letzte Huelsenbeck“ ist nämlich nicht neu; der Roman erschien bereits 2018. Allerdings ist mir das wumpe und ich empfehle ihn sehr gern.


Christian Y. Schmidt: Der letzte Huelsenbeck. 400 Seiten. ISBN 978-3-499-27351-3. Rowohlt Taschenbuch: Hamburg 2019. 12,- Euro [Hardcoverausgabe: Rowohlt.Berlin ISBN: 978-3737100243, Berlin 2018 22,- Euro // E-Book: Rowohlt.Berlin: ISBN: 3737100241, Berlin 2018: 9,99 Euro


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