Editorische Notiz
In den späten Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bereisten die damals noch nicht volljährigen Freunde Joachim Lottmann - genannt ‚Lojo‘ - und Stephan T. Ohrt ein halbes Jahr Nord- und Mittelamerika. Etwa neunzig Prozent der Zeit verbrachten sie in Hollywood und lernten dort viele Vertreter des New Hollywood Cinemas kennen, sowie geistesverwandte Künstler, Musiker und Autoren. Jack Nicholsen, Andy Warhol, Leonard Cohen, Wim Wenders, Francis Ford Coppola, um die bekanntesten zu nennen. Zutritt zu der hippen Szene verschaffte ihnen Gisela Getty, die junge, enigmatisch schöne Frau Paul Gettys, die mit den beiden Deutschen eine rätselhafte Dreiecksbeziehung einging. Der spätere Schriftsteller Lottmann schrieb täglich zehn bis zwanzig Seiten Tagebuch über die teilweise hochgefährlichen Situationen. Die Reise begann normal und durchschnittlich wie jeder USA Trip, bekam aber durch die Eifersucht des vorgeführten Ehemannes bald psychopathologische Züge. Die Tagebücher wurden fast zeitgleich in Hollywood und Hamburg gelesen, nämlich im Freundeskreis der beiden Freunde, bekamen sofort Kultstatus, gerieten aber später in Vergessenheit und galten über vierzig Jahre lang als verloren. Die Hamburgerin Jule Schaumlöffel, eine Jugendfreundin Stephan T. Ohrts, fand im November 2020 im Zuge einer Wohnungsauflösung auf ihrem Dachboden die Kopien aller Aufzeichnungen.
Joachim Lottmann, Januar 2021
Stephan und Lojo in Amerika
Anfangsbemerkung (zum Verständnis): Lojo will, weil er mit Diedrich wegen Nici in einer schweren Krise steckt - was für ihn deswegen existentiell ist, da er sich über Diedrich und ebenso über Nici (Nettelbeckmilieu, Zukunft) - definiert, nach Amerika.
6.6.78
Nici verkörpert die Vorstellung eines „besseren Lebens“. Wenn es Nici nicht gäbe, müßte sie erfunden werden: es muß sie einfach geben. Nicht alle Mädchen können „Schrott im Kopf“ haben, sonst nämlich hätte ich den Schrott im Kopf. Entweder gibt es Nicis oder ich bin verrückt. Wie sich zeigte, gibt es sie nicht. Ich bin es, der spinnt, wie Kelle (*1). Prompt wandte ich mich zurück zu normalen Mädchen, Sibill, Birgit, Gabi, Cornelia, auch zu normalen Mitmenschen wie Schäfer, Hummel, Böttger, Holm, Alexander, Ali, Annerose. Natürlich konnte das nicht gut gehen. Ich spürte einen Zusammenbruch kommen oder einfach nur: ich spürte sehr unangehme oder schlicht frustrierende Zeiten heraufziehen und setzte mich in die USA ab. Mit Stephan, der den heilgebliebenen Teil Hamburger Identität bedeutete.
In N.Y. und USA wäre es lustig und ganz bestimmt nicht langweilig geworden, dafür hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt. NACH der Reise, so spekulierte ich, wäre der Streit mit Nici (*2) verraucht oder geklärt, die Verkrampfung verschwunden, alle Beteiligten gerne bereit, ein Projekt zu starten. Man zieht zusammen (zu dritt oder zu viert mit Nici in einer größerer Wohnung) und unterwirft sich die Welt, erhebt sich wie Superman über die Hummels und Alexanders. So der Plan.
Jedoch: Stephan verliebte sich in Susanne, wollte lieber in Hamburg mit Susanne die Tage verbringen, als in irgendeiner anderen Stadt mit Freund Lojo. Ich überredete ihn zwar, was aber dazu führte, daß ich einen zutiefst unglücklichen und bissig-gemeinen Reisebegleiter hatte, der durch ständige Spitzen und demonstriertes Mißvergnügen mein ohnehin angekratztes Selbst bewußtsein untergrub.
Solchermaßen im Elend – er unglücklich, ich voller Komplexe – gaben wir ein trauriges Pärchen ab und trennten uns, in London. Er fuhr zurück zu Susanne nach Hamburg, ich fuhr alleine nach New York.
Soweit der kurze und verschnupfte Tagebucheintrag des ersten Tages. Schon beim nächsten Eintrag wird der Leser erfahren, daß Stephan keineswegs nach Hamburg zurückflog, sondern Lojos Begleiter blieb: erst in London, dann in Amerika.
(*1) Stefan Kelle, aus dem Hamburger Freundeskreis, wurde später Transgender Pionier.
(*2) Nici Reidenbach, Schwester von Felix Reidenbach, spätere Ehefrau von Diedrich Diederichsen.
7.6.78
Aufregung im Flugzeug, Luftlöcher, Unruhe nach soviel Gefliege. Es geht nonstop nach L.A., in 11 Stunden. Stephan kann es noch garnicht fassen, er schläft erst einmal, um damit fertig zu werden. Gestern war der schlimmste Tag in Stephans Leben. Hilfloses Gestolper durch London. Heute morgen erzählte er folgenden Traum: er wäre erneut Hauptdarsteller in einem neuen Giselafilm geworden, große Sache, erste Klappe, Drehbeginn, doch er hat seinen Text vergessen. Er hat auch das Drehbuch, das er vor Wochen aufmerksam gelesen hatte, verlegt. Er konnte seine Rolle nicht spielen, es war wie verhext. Ich dagegen erzählte Stephan folgenden Traum: ich besuche Diedrich und erwarte eigentlich, ihn nicht mehr vorzufinden. Sicher ist er seit Jahren woanders hingezogen. Als ich in den Briefkasten guckte, finde ich einen alten wohl nie angekommenen Brief von mir. Dann aber höre ich lautes Gezänk, das obere Fenster wird aufgestoßen und Diedrich hinausgestürzt. Er kracht neben mir zu Boden und rappelt sich mißmutig wieder auf. Wenig später kommt Nici runter. Diedrich drückt mir einen Schuh in die Hand, damit ich sie verhauen kann. Doch ich tue es nicht, weil sie nur 70cm groß ist und über alle Massen reizend. Hin und hergerissen stehe ich zwischen Diedrich und Nici. Soweit die Träume. Dieses London… den ganzen Nachmittag verbrachten wir wie zwei Häuflein Elend in einem billigen Wimpy, sagten kein Wort, sahen 8 Millionen Fremde Menschen mit Einkaufstaschen und Babys vorbeiziehen. Ein Erlebnis wie die Entennacht mit Elinor. Absurd, dies alles. Wozu hier sitzen? Sinnlose Reise. Warum sollte N.Y. anders sein? 12 Millionen Menschen mit Einkaufstaschen und Babys. Und dafür Tausende von Mark. „Was würdest du denn sonst mit dem Geld machen? Fragte ich Stephan. Seine Antwort war schrecklich: „Führerschein machen, ein Auto kaufen, mit Susanne wegfahren und eine gute Zeit haben. Der ganze Tag verlief in gedrückter Stimmung, es wollte einfach kein Umschwung kommen. Wir sassen nur da und überlegten fieberhaft, was zu tun wäre, und dieses Gegrübel war so anstrengend, daß wir, einer nach dem anderen, vor Erschöpfung einschliefen, mitten im Wimpy, gegen Mitternacht. Als wir aufwachten, beschlossen wir ach Hamburg zurückzufliegen, was uns endlich ein wenig erleichterte, worauf wir den Entschluß widerriefen und stattdessen beschlossen, nach L.A. zu fliegen, also nochmal doppelt so weit. Dann rannten wir ins nächste Hotel und schliefen sofort ein. Ich wachte bald wieder auf und wälzte mich bis zum nächsten Morgen im Bett. Verdammt, es war hart! Ich wußte wirklich nicht, wohin ich die Gedanken lenken sollte, um sie auszuruhen. Sobald ich an Hamburg oder Diedrich oder Nici oder auch München, Gabi, Fritz dacht, wurde mir elend. Ich war schon wirklich ein dünnhäutiges Seelchen. Nein, da mußte mehr dahinterstecken. Wahrscheinlich hatte ich großen Murks angestellt und wußte es noch nicht. Hoffentlich kriege ich es bald raus. Jedenfalls waren wir in London und zumindest Stephan wußte nicht, warum.
Noch mehr fremde Menschen mit Taschen und Babies, in Jeans oder in sonstwas. Stupid! Staßen, Boutiquen. Stephan wühlte in Klamotten, ich wartete, alle 30 Minuten die Freßwelle. 180Mark gaben wir in 30 Stunden aus, für all das In-den-Mund-Gestopfe. Ab und zu schwärmte Stephan von Susanne. Ich dachte viel an frühere, ebenso sinnlose Auslandsaufenthalte. Totes Material. Berlin, London, Paris (einmal), am schlimmsten: Dänemark. Verglichen mit Esbjerg, Odense und Kopenhagen war unsere Lage hier in London licht und heiter. Wenn man Stephan nur überzeugen könnte, die ganze Reise als unfreiwillige Ausweisung, Emigration, zu sehen. Aber das geht nicht, denn für ihn ist sie das objektiv nicht. Und für mich nur aus kindischen Gründen. Diese Mimosenhaftigkeit… ein falsches Wort von Nici und ich stürze Hals über Kopf ins Ausland. Aber so lerne ich die Welt kennen. Soweit mein Reisebericht. Leider kann ich über London an sich nichts mehr sagen, ich hatte die Augen fast immer auf meine Füße gerichtet, es interessierte mich einfach nicht. Später ging Stephan allein spazieren und kam ganz glücklich zurück. Das tat ich dann auch und fand es ganz aufregend. Aber lange könnte ich da nicht machen. Jetzt also im Flugzeug, seit fünf Stunden. Wir müßten uns mit den Fluggästen befreunden, Adressen austauschen.
„Das kommt ganz automatisch, so sicher wie das Amen in der Kirche! Im Flugzeug fühlt man sich spätestens nach einer halben Stunde wie eine große Familie!“ (Mann). Bis jetzt sitzen wir triefäugig im viel zu engen Sitz und haben partout keine Lust, diese Dutzendgesichter anzusprechen. Stephan schläft seit vier Stunden im Sitzen, Schweiß rinnt ihm über die entzündete Stirn, er wirkt nicht gesund. Ich lese seit 4 Stunden den drögen Hamburger Spiegel, Seite für Seite, wie als Kind, wenn ich nichts anderes zu tun wußte. Rechts neben mir der Flügel des Flugzeuges und darunter Amerika. Freie Sicht, blendendes Wetter.
8.6.78
Das Flugzeug landete, die Fluggäste standen auf, doch die Türen klemmten. Irgendetwas funktionierte nicht, sodaß alle 645 Passagiere über eine Stunde festgeklemmt waren und nacheinander in Ohnmacht fielen, weil der Sauerstoff knapp wurde. Als wir ins Freie traten, regnete es, nichts war zu spüren vom erwarteten äquatorialen Klima. Eine Einwanderungskommission prüfte unsere Angaben und nahm uns nach langem Hin und Her fest. Als einzige der 645 Menschen wurden Stephan und ich abgeführt, in ein Büro gebracht, wo ein Sherif uns tief in die Augen schaute. Ich behauptete, kein Englisch zu sprechen, Stephan behielt seltsamerweise einen Rest von Sicherheit. Er wußte auch nicht, daß wir keineswegs into jail sondern direkt zurück nach Europa geschickt worden wären, wenn der Sherif etwas strenger gewesen wäre. Da ich in 72 Stunden nur 5 Stunden Schlaf gehabt hatte, kippte ich jetzt, bei den langen Check-Ins im Flughafen, um. Unschlüssig standen wir endlich im Freien, nahmen einen Bus, der über zwei Stunden durch Vorstadtstraßen fuhr. Die Ausdehnung von L.A. entspricht derjenigen des Freistaates Bayern. Wir fuhren zum Hilton, eine Idee Stephans, der telefonieren wollte und dazu keine Zelle benutzen wollte, weil er nicht mehr stehen konnte. Der Bus schüttelte uns hin und her, wir stierten geradeaus und vermieden es, uns anzusehen. Stephan bohrte seine Schulter in meinen Rücken, weiß nicht warum, aber es beruhigte mich und verhinderte, daß mein nervöser Magen, in dem sich ausschließlich Tabletten befanden, durchdrehte. Der Bus hielt vor dem Hilton, ich rutschte nach draussen, Stephan rief mit überschlagender Stimme: „Bleib drinnen! Was sollen wir im Hilton! Komm wieder rein, auf der Stelle!“ Als ich das nicht tat, kam er auch raus und wir taperten zusammen in die Eingangshalle, immer weiter bis zum Lunchroom, wo wir uns setzten und Corn Flakes bestellten. Wir hatten die Teller schon fast ausgeöffelt, als einer von uns kurz hochguckte und den anderen sah, wie er Cornflakes im Hilton löffelte, ein absurdes Bild sicherlich, sodaß ein Lachanfall folgte. Kein gewöhnlicher Lachanfall, sondern einer, der uns in große Schwierigkeiten brachte. Mit hochroten Köpfen und nassen Gesichtern torkelten wir aus dem Hotel und kletterten in ein Taxi, das wie bestellt vor dem Eingang stand. Das Taxi hatte einen übergroßen Rückspiegel, in dem Stephan und ich uns besahen und das Fürchten lernten. Wir mußten dringend ins Bett, Stephans Ohr piepte nicht mehr, es kreischte, und bei mir hatte sich Kopf- und Magenschmerzen etwa auf Höhe des unteren Gaumens vereinigt und marschierten gemeinsam in Richtung Herzzentrum vor. Das vegetative Nervensystem drohte auszufallen, und als uns das Taxi zu einem anderen Hotel gebracht hatte, Stephan aber plötzlich Zigaretten hervorhohlte und über Amerika diskutieren wollte, tat es dann auch. Ich stand nur vor ihm und zitterte. Wir schlossen unser Zimmer auf und stellten den TV an, schalteten wild durch alle 17 Programme. Für Sekunden verdrängte die Aufregung darüber alles andere, dann aber fiel ich nach hinten und schlief ein.
Heute morgen wachte ich völlig regeneriert auf. Kraft für gute weitere 72 Stunden, alle Reserven neu aufgefüllt, der Kopf klar wie die Stratosphäre. Stephans eigentümlicher Körper lag da wie tot, doch – blink! – gingen die Augen auf und die Zähne wurden freigelegt. Stephan lachte, wenig später erzählte er, er habe gestern noch mit Martine und Paul Getty III gesprochen und sie haben ihn eingeladen. Ich müsse leider hier bleiben. Schlimm! Ich ging nach unten und trank Kaffee. Nichts zu machen! Stephan muß erst einmal allein nach Holliwood, danach sehen wir weiter. Hoffentlich geht es schnell. Stephan kam herunter, die Stimmung war ein bißchen gedrückt. Ich blickte auf meinen Teller und schämte mich. Warum hatte ich auch so miserable Sachen an… ganz zu schweigen davon, daß ich mich icht benehmen kann Stephan sah gut erholt aus, mehr noch, er blendete wie in besten Zeiten, ein „Aahh“ ging durch den Frühstücksraum als er reinkam. Kein Zweifel, Stephan muß ohne mich zu Getty’s, ich werde mir solange L.A. ansehen und neues Geld aus Deutschland anfordern. Erstmal richtig einkeiden.