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Stephan und Lojo in Amerika 6



19.6.78


Hätte ich gestern Zeit zum Schreiben gehabt, hätte ich den Rest des Heftes auf einen Sitz vollgekriegt. Es war die erste Krise in der jetzt 5 Tage alten Beziehung zu Mrs. Getty. Es war nicht so, daß ich abfahren wollte (wie einen Abend vorher), viel schlimmer: ich wäre zu dem Entschluß, abzufahren garnicht mehr im Stande gewesen. Dabei hatte es ganz anders angefangen: Die Kinder krallten sich an meine Beine, rammten ihre kleinen Fingernägel in mein Fleisch, verwickelten mich in immer neue kleine und große Handgemenge (s.a. „Vietcong und die Stadtguerilla: schafft zwei, drei, viele Vietnams“ Wagenbach-Verlag, Frankf. a.M.). Also kam ich nicht zum Schreiben, wurde im wirklichen Sinn des Wortes frustriert, die Felle schwammen weg, ich ließ mich sogar freiwillig (bzw. ohne Gegenwehr) auf den schändlichen AutoRÜCKSITZ fallen. Stephan sollte die Nr. 2 spielen, den Abend machen, ich wollte lieber als abgeschlagener Dritter vor mich hinbrüten. Stephan saß also vorne und machte die reizendste Konversation seit langem, ich steckte hinten zwischen den Koffern und kochte. Dampf und Schweiß traten mir aus den Poren. Ich mochte garnicht mehr aufhören, es war eine Wut wie lange nicht mehr, es spülte durch meinen Körper, ich erholte mich von Grund auf. Ich mußte nur abwarten. Beim vorletzten Lied – wir waren inzwischen beim großen Comeback-Konzert von diesem Punktyp – hatte ich ausgekocht. Ich würde in L.A. bleiben und niemandem böse sein. Wir fuhren wieder, Stephan bohrte in der Nase, saß immer noch auf dem Beifahrersitz, dann saßen wir zu dritt zwischen übergestülpten Stühlen und abräumenden Kellnern, zu unseren Füßen wienernde Putzfrauen, die das umgekippte Bier der letzten Gäste vom Boden wischten. Wir sprachen über die nackte, brutale Wahrheit von Business und Karriere. Ich schlug mit der geballten, ein Pfefferfässchen umkrampfenden Hand auf den Tisch. Martines Augen wurden zu Schlitzen, „Ja, ja, ja!“ stieß sie hervor, Stephan stotterte, bedrängte uns, das Lokal zu wechseln, weil ihm die Szene unheimlich wurde. Wir beschlossen, am nächsten Tag mit Karriere und Business , nackten Tatsachen und wahrer Brutalität anzufangen, und zwar zu dritt. Martine wurde bei Paul abgesetzt. Paul sah sie erstmals seit Tagen… er war selbst weggewesen, war durch die Straßen gelaufen, hatte seinen Schwanz in den Bauch fremder Frauen gesteckt, war dann zu dem Ergebnis gekommen, daß er Martine und mich auf frischer Tat ertappen müßte und mit der reparierten Magnum 45 niederknallen müßte, eine Aktion, auf die in Californien und in Texas sowie Georgia und Tennessee keine Strafe steht. Welch gutes Timing also, als Paul ausgerechnet in diesem Moment eine Martine ohne jeden Liebhaber vor die Pistole bekam. Er steckte die Magnum in den Brotkasten und liebte seine Frau wie am ersten Tag. Jedenfalls ein paar Minuten lang. Dann nämlich merkte er, daß Martine so verändert war wie vorher. Diese verflixten Germans! Am nächsten Morgen wollte er den Germans eigenhändig die Tür vor der Nase zuschlagen.

Doch Stephan und ich kamen garnicht. Es wurde Mittag, Nachmittag, und Paul glaubte wieder an die dürren Worte seiner Frau, an Begriffe, also Freiheit, Unabhängigkeit, Lust, Gerechtigkeit und so weiter, er wurde friedlich und hätte, wenn er gewollt hätte, weinen können. Um 14 Uhr kamen dann die beiden Germans. Ich drückte ihm warm die Hand, zog ihn beiseite und flüsterte: „It’s all all right*, good Paul“ oder so ähnlich, dann fuhr ich mit Martine weg, Stephan zurücklassend. Stephan war mir die letzten Tage immer lieber geworden, wann immer ich mit ihm allein war gab es soviel zu besprechen wie unter zwei besten Freundinnen*, die sich die ganzen Sommerferien nicht gesehen haben. Die letzte Nacht hatten wir im Hotel bis zum Sonnenaufgang amerikanisches Fernsehen gesehen, farbig, knallig, nachts um 4, voller Werbespots, sechs Spielfilme auf 8 Kanälen. Nach dem Tag am Strand, den Martine und ich hatten, änderte sich das. Stephan war 10 Stunden schutzlos den Kindern und dem berstenden, jetzt tatsächlich weinenden und dann wiederum sich schlagenden Paul preisgegeben worden, das war zuviel, das war durch ein Gespräch unter Freundinnen nicht mehr wiedergutzumachen. Stephan kippte, ich lief zu ihm, fuhr mit ihm Auto. Die Lage hatte sich geändert, ich selbst war in der anfangs erwähnten ersten Krise mit Martine, war sehr seltsam. Stephan beschwor mich: Mensch, wir knacken den Getty-Konzern, wir jagen das ganze Imperium in die Luft, wir lassen uns von aufgebrachten Anwälten um den Kontinent jagen, ins Kittchen werfen, es wird Tote geben und wir werden für immer… wir werden ein letztes Kapitel vom Hollywood Babylon werden…“ Ich hörte ihn kaum, Berührungs- und Sinnesorgane arbeiteten fehlerhaft. Anstatt zu antworten, packte ich Stephan und keifte: „Heute trägst DU die Verantwortung. DU wirst für mich sorgen… ich fühle mich heute nicht sehr passend, Stephan, du wirst helfen, mir helfen, bitte!“ Inzwischen war die Krise weit fortgeschritten, wir saßen zu dritt am Tisch, es knisterte im Gebälk, die Spannung wurde unerträglich, im Nebenraum putzte Paul die Magnum, weder Martine noch ich rührten das vor uns stehende, gefährlich dampfende Essen an, die Kinder lagen mit Gehirnerschütterung und Platzwunden an Kopf und Rücken am Boden, doch Stephan streckte sich, vermied es nicht, die Situation gemütlich zu nennen, entwickelte guten Appetit und erklärte ahnungslos: „Ach, Kinder, heute bringen uns keine zehn Pferde aus unserem Häuschen!“.


(*8) Anders als in der Lesung, heißt es im Text in der Tat nicht "it's alright", sondern "it's all all right". Ein naives Englisch scheinen Protagonist (und Erzähler) wiederholte Male strategisch einzusetzen.


(*9) Warum nicht <Feunden>?

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